Texturen oder: Was im Tanz zu Sprache kommt.
Tanz hat den Ruf des wortlosen Akteurs unter den darstellenden Künsten und ist deshalb noch längst nicht stumm. Im Gegenteil. In seiner zeitgenössischen Praxis und deren analytischer Betrachtung findet Tanz auf einem Minenfeld der Begriffe statt. Denn mag er neben dem Bewegungsapparat auch die Sprechwerkzeuge für sich entdeckt haben: Was er darf, kann und soll, will man ihn gerade als verbal Mündigen nicht selbst entscheiden lassen. Weite Teile des kritischen Diskurses tun sich schwer mit einem Mitspracherecht für Tanzschaffende auf der Bühne. Aber welche Reviere werden da eigentlich von wem verteidigt, und warum? Wir denken darüber anhand eines Glossariums aus Begriffsfundstücken nach und nehmen so die öffentliche Rede über Tanz in fünfzehn Fällen beim Wort. Außerdem sprechen wir mit Heike Albrecht, der Mit-Initiatorin und Kuratorin des neuen Leipziger Festivals “westend“, und dem Berliner Choreografen Thomas Lehmen über erfolgreiche Behauptung und haltlose Behauptungen im tänzerischen Tagesgeschäft. / Constanze Klementz und Franz Anton Cramer
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"Kannste ma genau erzählen, wie Blabla sich hüpft? Die Sehnsucht nach einer Demokratisierung der Kunst hat in keiner Sparte der darstellenden Kunst so peinliche Ergebnisse gezeigt wie im Tanz. Der Inbegriff des unschönen Tanzes, der schlecht rasierte, mäßig talentierte Tänzer im hässlichen T-Shirt, ist ein historisch gewachsenes Problem. Der Dilettantismus im Tanz wäre nie zu solchem Renommee gelangt, wenn die Leute rechtzeitig Buh gerufen hätten und die Kritiker weniger feige wären. Was der Körper darf, was er eigentlich will, ist heute immer noch wichtiger als die Frage, ob dabei wirklich ein Stück herauskommt. Denn wo - wie hierzulande üblich - all jene, die sich für intelligent halten, ausschließlich aufs Wort bauen und vertrauen, kommt ein noch so bewegender Körper nicht weit. Aber: Tanz ist Verausgabung oder es ist nicht Tanz. Und immer das Ringen um einen autonomen Ausdruck, um jene Schönheit, die (mit Karl Philipp Moritz gesprochen) "Vollendung in sich selbst" ist, die (nach Schiller) dem Menschen erst ermöglicht, "aus sich selbst zu machen, was er will" und ihm die Freiheit gibt, "zu sein, was er sein soll."
(Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, ballett-tanz, 2003 und 2004)
Tanz, so sagt man, sei die sprachlose Kunst. Das kann man so und so verstehen. Der Tanz spricht nicht, weil ihm die Worte fehlen oder: weil er es nicht nötig hat. Beides aber geht an der Realität vorbei. Tanz spricht schon eine ganze Weile. Die Tanzwissenschaft bemüht sich hier um Klärung, und die Kritiker sparen nicht mit Kommentierung. Unterdessen nehmen sich die Choreografen immer größere Freiheit, sich zu erklären.
Dabei fällt auf, dass, wer über Sprechen im Tanz spricht, in der Regel gar nicht das Wort in der Choreografie meint. Artikuliert sich der Tanz nun besser mit dem trainierten Kreuz- als mit dem lange vernachlässigten Stimmband? Wer wollte schon behaupten, ein ungeschult genuscheltes Blabla könne zwischen Bühne und Zuschauerraum zur Klärung oder Erklärung von irgendetwas beitragen? Andererseits ist die Zunge ein Muskel, ebenso wie das Gehirn. "The mind is a muscle" wusste Yvonne Rainer, Ikone der amerikanischen Postmodernen und gleichsam die Patin der ewigen (Geistes-) Gegenwart im Tanz, schon 1966. Xavier Le Roy nahm diese Feststellung gute 30 Jahre später in seiner Lecture Performance &"Product of Circumstances" beim Wort. Die Erwartung körperlicher Verausgabung greift nämlich viel zu kurz, wenn sie nicht auch Stimme und Intellekt mit einschließt.
Spätestens auf den zweiten Blick wird klar: Die Sprache, die dem Tanz zu- oder abträglich, eigen oder fremd sein soll, ist nur ein Vehikel, ein Trampolin, von dem aus sich die Debatte in höhere Sphären katapultiert, dorthin, wo die Luft dünn und die Begriffe groß und grundsätzlich werden. Es wird hier also weder darum gehen, die unbestreitbare Verklammerung von Sprachlichkeit und Kunsttanz über die Zeiten und Stile hinweg ein weiteres Mal nachzuweisen. Ballett mag als abstraktes, in sich geschlossenes System von Bewegung in Begriffen gelten, die nach dem Vorbild der Grammatik zu stilistisch korrigierbaren Aussagen verknüpft werden. Trotzdem wird es hier nicht zur Beweisführung herhalten. Gleiches gilt für das Tanztheater - obwohl es in sich schon und sozusagen begrifflich den Bogen über den reinen Tanz weit hinaus schlägt. Auch die ersten so genannten "Choreografen", die um 1700 zuallererst als Tanzaufschreiber, also Schrittnotierer höfischer Tänze auftraten, dürfen in Frieden ruhen. Wo nicht die Antwort, sondern die Fragestellung, wo das vorgebliche Problemfeld selbst das Problem ist, nimmt man besser die Begriffe selbst beim Wort, die in der Diskussion um das Vorrecht des Tanzes auf Begriffslosigkeit aufgefahren werden.
Was steht in diesem definitorischen Glaubenskrieg eigentlich zur Disposition? Pina Bausch ließ schon Anfang der Siebziger ihre Tänzer vorsprechen, und bis heute ist dies eines ihrer tanztheatralischen Markenzeichen geblieben. Die Rede war von Ängsten, Hoffnungen, Wünschen, vom tanzenden, gesellschaftlich eingewundenen Menschen hinter dem bloß instrumentellen Tänzer. Zehn Jahre später zog William Forsythe mit seinem legendären Debüt-Stück "Gänge" nach. Nicht auf makellosen Pirouetten lag der Fokus in dem mit sechs Monaten unverschämt langen Probenprozess, sondern auf einer geduldigen Suche nach dem, was die Tätigkeit des Tänzers im Innersten zusammenhält: den persönlichen Erfahrungswelten der Bewegungskünstler, bekenntnishaft oder lakonisch vorgetragen. Ihnen war "Gänge" als ein Bühnenstück gewidmet, in dem Tanz nur als eine Facette des Individuellen auftauchte, als Medium der Emanzipation, nicht mehr als Schablone der Kunst.
Beide, Bausch wie Forsythe, sorgten mit ihrer Befragung des Genres und seines Menschenbildes für Aufruhr bei Publikum wie Kritik. Doch wären diese Zeilen überflüssig, wenn das Arrangement zwischen Körper und Sprache, das im zeitgenössischen Tanz keine Skandal- und auch keine Zwangsehe mehr darstellt, nicht bis heute Widerspruch provozierte. Es war Jérôme Bel, der 1998 in "Le dernier spectacle" seine Tänzer mit einem Satz auf die Bühne schickte, der ähnlichen Rang beanspruchen darf wie Bauschs "Mich interessiert nicht, wie jemand sich bewegt, sondern was ihn bewegt." Der Satz hieß: "Ich bin Susanne Linke." Ihm folgte zuerst eine wiederholt getanzte Passage aus Linkes Choreografie "Wandlung" - ein Stück der zweiten deutschen Tanztheatergeneration - und später ein Gegen-Satz: "Ich bin nicht Susanne Linke." Wie bitte?
Ein Jahr später stand der erste Choreograf am Rednerpult. Xavier Le Roy referierte seine Forschungen über die "Darstellung von Onkogenen und hormoneller Regulierung bei Brustkrebs unter Einsatz quantitativer in-situ-Hybridisierung". Außerdem demonstriert er in "Product of Circumstances" Übungen aus seiner Tanzausbildung und choreografisches Material seiner ersten Engagements. In seinen beiden biografischen Rollen als promovierter Molekularbiologie und als Tänzer insistiert er darauf, dass ökonomische und strukturelle Bedingungen des jeweiligen Arbeitsfeldes sich in die Ergebnisse der Arbeit einschreiben. Wie der Forscher mit Indikatoren und Nährlösung, hantiert der Choreograf mit Körperteilen und -bildern, die im Moment der Aufführung schon nicht mehr ihm gehören. Denn der Körper, der im Stück zum Ausdruck kommt, ist niemals ein kommunikativer Anfang, sondern immer schon ein Produkt - auch eines sprachlich strukturierter Anschauung.
Mit Bel und Le Roy hat eine ganze Generation den Tanz um seine Unschuld gebracht: John Jasperse gehört dazu ebenso wie Thomas Lehmen. Auch Meg Stuart mit ihren widergespenstigen Körpern, die sich in funktionale Bewegungsabläufe nurmehr als Störfall einfügen oder Boris Charmatz, der seinen Tänzern auch schon mal Jeanshosen über die Köpfe stülpt, um dem Zuschauer den Seelenspiegel Gesicht auf berechnet plumpe Weise zu entziehen. Längst nicht alle lassen den Tänzer wirklich hören, und selbst wenn, sind die Strategien des Sprechens so vielfältig wie die körperlichen Denkmodelle, die ihnen zu Grunde liegen. Längst zählen dazu auch schon solche des tänzerischen Wesens und des bedeutsamen Wortes in komplexer Verbindung. Die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre taugt nicht zu deduktiven Schlüssen über einen allgemeinen Werteverfall, mit dem sich der Tanz als Darstellende Kunst disqualifiziert, weil er sich mit seiner Sprachlosigkeit auch sein autonomes Wesen ausredet. Sie zeugt vielmehr davon, dass die Werte selbst, dass die Begriffe von Sprache und Körper in einer Weise in Bewegung geraten sind, die den alten Dichotomien zuwider läuft.
Der Argwohn, der im sprechenden Tänzer die feindliche Übernahme choreographischer Start-up-Unternehmen durch den Großkonzern Theater wittert, ist einer Differenzierungsblockade geschuldet. Sprechen ist nicht gleich Sprechen und der stumme Körper nicht der automatisch aussagekräftig. Die Annäherung von Wort und Körper findet längst von zwei Seiten statt. Ein Regisseur wie Michael Thalheimer zählt mit seinen choreografischen Inszenierungen im Sprechtheater zu den "bemerkenswerten" Dauergästen des Berliner Theatertreffens. Seine Auffassung von Körperlichkeit erweitert den Spielraum des Wortes und spitzt ihn gleichzeitig zu. Es begegnen sich nicht mehr Welten, sondern Lesarten: Einerseits wird bei Thalheimer der Schauspieler selbst wie eine Art Schriftzeichen im Raum eingesetzt, andererseits lagert sich Text, der vorgeblich fehlt, also nicht mehr ausgesprochen wird, oftmals wortlos in Gängen oder Haltungen ein. Auch auf dem Terrain des Theaters wittern ästhetische Besitzstandswahrer die Gefahr, man verriete die dramatische Essenz, das Wort, an den öden, blöden Körper.
Im Tanz bedienen sich Choreografen wie Philipp Gehmacher oder Christoph Winkler aber bereits wieder völlig neu zugeschnittener Auffassungen von Sprache und Tanz, wenn der eine wortlos aus mikroskopischen physischen Erschütterungen im Raum eine aufwühlende Grammatik entwickelt und der andere beide Bereiche, Wort und Bewegung, als zwei Spielarten von Mitteilung hart und semantisch gegeneinander schneidet. Da es wohl kaum ausreicht, wenn wir alle einmal kräftig Buh rufen, damit die Gemengelage der Ausdrucksweisen wieder übersichtlich und also gut wird, ist dies stattdessen der Versuch, das Sprechen über das Sprechen im Tanz zu ordnen und zur Ordnung zu rufen. Das Nachdenken über choreografische Mitteilungsstrategien ist schließlich überhaupt erst möglich, wenn man in der Begrifflichkeit nicht ständig hinter den Stand der Kunstgeschichte zurückfällt. Brauchen wir heute wirklich noch Antworten auf Fragen wie: Warum ist das T-Shirt das Leichenhemd der Schönheit? Und was hat Demokratisierung mit Dilettantismus zu tun?
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Ausdruck
Europas Tanzmoderne meldet im Begriff "Ausdruckstanz" ihr Patent auf sprachfreien Ausdruck mit einem sprachlichen Ausdruck an. Der Ballettvirtuose, der im Dienst einer Rolle auf der Spitze seiner Technik balanciert und die "freien" Tänzer, die bei ihrer subjektiven Innenschau nur noch sich selbst verpflichtet sein wollen, haben sich nichts mehr zu sagen. Die Abweichler fordern den Freispruch des Körpers: von Wort und Norm. Der zeitgenössische Tanz, der seit den 90er Jahren durch die Epochen streunt und sich freimütig beim Wissensstand der Bildenden Kunst, der Philosophie und Psychologie bedient, integriert die beiden großen Ausdruckskonzepte. Die dramatische Figur des klassischen Handlungsballetts und das bewegte Individuum treffen sich am Nullpunkt: dem authentischen Körper als zentraler Illusion der Tanzbühne, beim Tänzer, der sich selbst als Fiktion verkörpert.
autonom
Nach der angreifbaren Logik der Spartentrennung müsste der Tanz ein Set prinzipieller Merkmale bedienen, um er selbst zu sein, und der beste Tanz wäre der definitorisch lupenreine. Aber wer kann darüber befinden außer der Kunstpraxis selbst? Die Konzentration des Mediums bis zu einem innersten materiellen Kern führte die Malerei bis zur leeren Leinwand zurück. Dort eröffnet sich ein neuer Raum der Möglichkeiten, der auch die Freiheit zu Schönheit und Virtuosität einschließt. Der Nullpunkt lässt sich überschreiten, aber nicht hintergehen.
Bewegung / bewegend
Ein bewegender Mehrwert soll Bewegung zu Tanz adeln, denn dieser bewegt den Betrachter emotional. Den Übersprung von Körper zu Körper, Empfinden zu Empfinden kultivierte man lange als exklusive Qualität des Tanzes in Abgrenzung vom sprachlich verschlüsselten Theater. Beim Zuschauer unmittelbar zünden kann aber nur, was von einem Körper ausgeht, den er sich als unmittelbar erleben sieht. Dummerweise war genau das von einem Tag auf den anderen nicht mehr der Fall. Der Körper fand sich in der Bewegung als ein anderer vor. Er berichtete davon ganz nüchtern mit dem Wort und hatte es trotzdem auf bewegte Mitteilungen abgesehen.
Blabla
Leeres Gerede - so erklärt das Neue Deutsche Wörterbuch „Blabla” - ist ein Sprechen ohne Inhalt. Als solches hat es einen bedeutenden Vorfahren in der Literatur: "ach, ach!" Leer, aber hörbar, kommt dies als einziger Ausdruck aus dem Mund der Maschinenfrau Olimpia in E. T. A. Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann". Der Physikstudent Nathanael verliebt sich trotzdem in sie oder vielleicht auch deshalb. Olimpias nichts sagende Körper-Mechanik verdreht dem Empiriker den Kopf. Später wird man in den großen Damen des Ausdruckstanzes eine organische Variante dieser wortlosen, doch bewegenden Beweglichkeit als "sichtbar gewordener Naturlaut" anschwärmen. Sobald der wiederum zu reden anfängt, ist der Zauber dahin. Der Laut, der redet, plappert "Blabla" - so lange man den zeitgenössischen Tanz als Reservat für Naturlaute ansieht.
Buh
Im alten Teatro di San Carlo in Neapel hängt in jeder Loge ein Spiegel, der von jedem Sitz aus den Platz des Königs zeigt. Ein und derselbe Blick erfasst so das Schauspiel und das Urteil, das der erste Zuschauer im Staat darüber spricht. Hundertfach von Spiegeln und Untertanen zurück geworfen, war das Buh des Königs eine normative Macht. Heute spiegelt sich das Publikum lediglich selbst, denn der Platz des Königs ist leer und das hingebungsvoll und vielstimmig gerufene Buh der Ritterschlag der Avantgarde. So wurden selbst im Ballett schon vor bald hundert Jahren Vaslav Nijinskys "L'Après-midi d'un faune" (Sex!) und "Le sacre du printemps" (Gewalt!) in Saalschlachten zu Klassikern.
Darstellende Kunst
Tanz fühlt sich seit jeher auffällig wohl in Galerien: von Lady Hamilton in Neapel vor 1800 über Isadora Duncan, die sich um 1900 in den Antikensammlungen der Londoner Museen ergeht. Die Performance Art durchbricht nach 1945 die Grenzen zwischen Tanzprofi und Kunstakteur. Heute ordnet sich etwa der Choreograf Tino Sehgal, der in "(OHNE TITEL) (2001)" am eigenen nackten Körper Versatzposen bedeutender choreografischer Stile des 20. Jahrhunderts ausstellte, selbst bewusst dem Kunstmarkt, nicht dem Tanzzirkus zu. Und er stößt auf Gegenliebe: Sehgal wurde eingeladen, den deutschen Pavillon bei der nächsten Venedig-Biennale mit zu gestalten. Was bringt eine Unterscheidung von Tanz als "darstellender"von der "bildenden" Kunst eigentlich mit sich? Wer bildet, unterwirft sich ein Material und erklärt es in einem bestimmten Bearbeitungsstadium zur Form. Wer darstellt, macht aus sich selbst etwas und zwar vor jemandem. Im zeitgenössischen Tanz häuft sich in einer Hinsicht die strategische Anleihe bei der Bildenden Kunst: Der Tänzer begreift sich selbst als Material für den bildenden Blick des Betrachters. Erst dieses Wissen qualifiziert ihn neu als Darsteller.
Demokratisierung
Kunst hat einen undemokratischen Zug. Allerdings nicht, weil sie ihrem Wesen nach elitär, sondern weil sie kompromisslos ist. Nicht, was jeder noch eben mithüpfen kann, nennt sich nach einer großen Utopie "freier" Tanz, sondern ein Tanz, der die Begriffe Ausdruck und Form selbst umgewertet hat: Jedem Individuum ist es dem Wesen nach freigestellt, sich selbst Standards zu setzen, die nach dem akademischen Verständnis zwar keine Standards mehr sind, weil sie keinen allgemein gültigen Wert mehr haben. Dafür steht es denselben Individuen offen, in einen Kunstmarkt einzutreten, vor dem alle Waren zunächst einmal gleich sind. Nur wer Joseph Beuys gekonnt missversteht, sieht sein "Jeder Mensch ist ein Künstler" die Kunst auf das dilettantische Niveau einer "Masse" erniedrigen.
Dilettantismus
Keiner von den Tänzern, die in Jérôme Bels "Le dernier spectacle" als Susanne Linke auftreten, ist Susanne Linke. Auch fällt ihre tänzerische Interpretation, wenn man das Original zum Maßstab erhebt, unterschiedlich überzeugend aus. Doch gerade um die Differenz geht es hier, um Identität, die nur mehr als Zitat möglich ist und die sich darin zeigt, dass der Körper bestimmten Formvorgaben gerade nicht entspricht. Darin, dass er die Technik, Susanne Linke zu sein, nicht beherrschen kann, besteht Bels Dilettantismus, zugleich seine Aussage und damit seine Professionalität.
Freiheit
„Tu, was du willst!”, lautet Thierry de Duves Fazit aus seiner Beschäftigung mit der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Kunst sei lediglich eine Frage der Auswahl. De Duve wählt die Readymades von Marcel Duchamp als Aufhänger für seine Kant- und Kunstgeschichtsanalyse „Kant nach Duchamp”: den Flaschentrockner oder das Pissoir, die jeder Geschmacksästhetik eine Absage erteilen. Nicht gute oder schlechte Kunst steht seither zur Diskussion, sondern Kunst und Nicht-Kunst, von einander lediglich durch ein Museumspodest, also die Auswahl des Künstlers getrennt. Zwischen Tanz und Nicht-Tanz läge dann gar keine Welt, sondern nur eine Definition, die die Freiheit gibt, das zu sehen, „was man will”: den Skandal, die Schönheit, die Idee. Oder nur das T-Shirt.
Kritiker
Der Kritiker residiert auf dem Problemfeld kulturindustrieller Hoheitsrechte, einem der letzten Rückzugsgebiete normativer Allmachtsphantasien. Irgendwann hat er sich die Königsloge reserviert, kann sich aber mit der Tatsache, dass kaum noch jemand in den Spiegel schaut, schwer abfinden. Als schwacher Trost stehen ihm Reste des früheren Urteilsmonopols offen. Den Tanz, der als Stück auf den Markt trifft, muss der Kritiker dazu so ins Visier nehmen, als sei der Zugang zur Kunst und die Festsetzung ihres Wertes weiterhin autoritativ geregelt. Nur wer den „richtigen” Geschmack mitbringt, soll angemessen über die Vermarktbarkeit befinden dürfen. Das Ringen zwischen ästhetischer Innovation und Urteil nach dem Gesetz der Meinungsmacht bliebe damit stets zugunsten des Richters entscheidbar.
Schönheit
Umberto Eco schreibt eine „Geschichte der Schönheit”. Im Spiegel verkündet Kurator Roger M. Buergel, bei der kommenden Documenta werde „die Schönheit dominieren”. Er setzt hinzu: „Schönheit ist ja mehr denn je ein Kampfbegriff...” Schönheit ist wieder groß im Kommen, aber nicht etwa als eine der vielen Optionen von Kunst, die sich ihrer hart erarbeiteten Freiheit freut. Schönheit will, was sie immer wollte: „Genuss wie im Restaurant” (Buergel). So meldet sie sich auch jetzt zurück: als vorgeblich notwendige Bedingung alles Ästhetischen. Guten Appetit.
Stück
Im Produkt findet der Wirtschaftskreislauf seine Achse. In Zeiten des Turbokapitalismus manifestiert sich auch jeder Kunstanspruch im Umgang mit dieser Formatvorlage. Ist also Thomas Lehmens „Schreibstück”, das seit 2002 als Buch auf dem Tanzkunstmarkt kursiert und dieses Jahr in drei neuen von bisher insgesamt 12 Versionen in Gent und Brüssel auf die Bühne kam, nun ein „Stück”? Einerseits: Mehr Stück geht kaum. Immerhin leiht sich der Choreograf den traditionellen Stückbegriff schlechthin, nämlich den des Dramas als Inszenierungsvorlage aus. In Buchform ist niedergelegt, was an Themen und Inhalten in der Choreographie, die drei Gruppen in drei Versionen als Kanon aufführen, vorkommen soll – einschließlich der Dauer jeder Aktion und der Musikauswahl. Andererseits: Ist ein Choreograf noch Choreograf, wenn er sich auf die Position des Autors begibt und die Inszenierung von Szenenanweisungen unter Überschriften wie „Nichts”, „Ficken”, „Zusammenfassung” oder „Von weiterer Bedeutung” Anderen (Tänzern, Choreographen, Musikern, Graphikern...) überlässt? Ist ein solches Tanz-Stück original oder vielmehr ein Versatz-Stück seiner kommenden Aufführungen? Wo bleibt der auktoriale Ursprung? Oder ist dessen Verlagerung ins käufliche Buch der eigentliche Ursprungsmoment des Stücks, das erst beginnt, wenn der Autor ausgeschaltet worden ist?
T-Shirt
Modisch populär wurde das T-Shirt als Träger von Text- und Bildinformation. Der Körper lässt sich bezeichnen – nicht mehr durch den Schönheitsfleck, sondern durch Sinnspruch und Markenlogo. Tanzen im T-Shirt ist praktisch und bequem und erst neuerdings ein Politikum. Jérôme Bels „Shirtology”, das Stück zum Phänomen, stammt von 1997. Aus T-Shirts, die ein Tänzer eines nach dem anderen abstreift, ergibt sich eine Choreografie von Ausdruck als Aufdruck: Von „Lille 2004” wird rückwärts gezählt bis zu „one t-shirt for the life”, gefolgt von der Haut des Darstellers und zuletzt seinem Skelett. So simpel die Machart des Stückes, so respektlos verspottet es das Bedürfnis, dem Tänzer ins Innerste zu sehen.
Verausgabung
Die Lust am Spektakel der Erschöpfung ist eigentlich dem Sport vorbehalten. In künstlerischen Bewegungskontexten galt lange der Kodex „Über die Schmerzen hinweg lächeln“ (Ballett) oder „Alle Anstrengung und Gefahr verschwinden machen“ (Zirkus). Wichtig war in beiden Fällen die Illusion der Mühelosigkeit. Je individueller aber das Tanzen als Erleben geworden ist – Contact Improvisation, Ferienkurse, Disco, Rave – desto mehr trat das Schweißtreibende in den Vordergrund. Tanz mutierte jenseits der Kunst-Regeln zum offenen Energiefeld, indem statt eines ästhetischen vor allem ein dynamischer und libidinaler Mehrwert entstehen kann. Die Tanzaufführung ist Partyzone, in der die Verausgabung zur Show, der Schweiß zur Verheißung von Teilhabe und Zugänglichkeit werden. Auf dass jeder schwitzend nach seiner Fasson selig werde.
Wort
„Dance is nothing, but dance” (William Forsythe). Und also in jeder begrifflichen Aussage nichts als ein Wort. Dessen Definition bleibt der künstlerischen Praxis überlassen. Hierin liegt die eigentliche Freiheit des Tanzes, der zeitgenössisch ist und sich über sich selbst aufgeklärt hat. Und überhaupt: Wie könnte sich Tanz der Sprache an den Hals werfen? Hat sich nicht längst die Sprache als Geflecht von Bedeutungen in Bewegung gesetzt? Tanz ist wie jeder Begriff niemals mehr als er selbst: ein Wort und dessen Praxis. Sprache als Tanz trifft auf Tanz als Sprache.
p.s.: Choreografie bedeutet „Bewegung schreiben”.