Flügellahmer Engel, torkelnder Gott
„Régi“ von Boris Charmatz inszeniert Raimund Hoghe als Kultobjekt
Es gilt als Sensation, die die Pariser Tanzwelt in Aufruhr versetzte. Boris Charmatz, neben Jérôme Bel unbestrittener Darling der radikalen zeitgenössischen Choreographie in Frankreich, hat nach sechs Jahren der künstlerischen Grenzgänge endlich wieder ein Stück für die Bühne gemacht. Er hat zudem für „Régi“ den deutschen Choreographen Raimund Hoghe als Darsteller gewonnen. Hoghe, hierzulande wenig geschätzt, aber in Frankreich geradezu eine Kultfigur, wechselt in diesem Projekt erstmals die Seiten: Bislang hat der ehemalige Dramaturg von Pina Bauschs Tanztheater Wuppertal stets nur eigene Stücke gezeigt. Für „Régi“, das bereits Anfang des Jahres in Wien und dann auf einigen französischen Festivals gespielt worden ist, ließ er sich auf die Führung – die Regie – eines anderen ein.
Charmatz ist von Hoghe, dessen Wirbelsäulenverkrümmung ihm eigenartige Proportionen verleiht und in den Bewegungen recht unbeholfen macht, fasziniert, und er stellt diese Faszination in den Mittelpunkt seines Stücks. Von dem sieht man zunächst aber gar nichts. Aus dem stockfinsteren Bühnenraum dringt nur ein seltsames Surren. Ganz allmählich erhellt sich die Szenerie so weit, dass man eine kranähnliche mechanische Konstruktion erkennt, eine Art Schwenk-Galgen, der in leichtem Ungleichgewicht montiert ist. Eine Seilwinde – sie produziert das monotone Surren – wickelt eine lange Schnur auf, die, wie man nach und nach begreift, durch den gesamten Bühnenraum gespannt, an Wänden, Beleuchtungsbrücken, Kulissengestänge befestigt ist. Mit reißendem Geräusch zerrt die Seilwinde an diesen Kontaktpunkten. Schließlich führen alle Umwege ans Ziel, indem die Seilwinde zwei leblose Körper auf die Bühne zerrt: Boris Charmatz und Julia Cima. Sie hängen leblos wie erlegtes Wild am Haken und geben einen makabren Tanzpartner für Schwerkraft und Seilwinde ab. Die Apparatur figuriert als teilnahmsloser Marionettenspieler, der indessen den beiden Tänzern, frei nach Kleist, keine Seele einzuhauchen vermag. Das soll erst Hoghe gelingen, als er aus dem Dunkel hervortritt.
Er bringt die beiden baumelnden Marionetten in Schwung, bis der Galgen sie schließlich freigibt. Und während Cima in den Hintergrund verbannt wird, befassen sich Charmatz und Hoghe, das ungleiche Paar, miteinander. In melancholischem Dämmerlicht kauern beide nebeneinander. Man erkennt, dass sie sich entkleiden.
Was folgt, ist eine fast skandalöse Neugier des athletisch gebauten, makellos trainieren Tänzer-Körpers von Charmatz am verwachsenen und jeder Norm widersagenden Körper von Raimund Hoghe. Mit sinnlicher Verhaltenheit konfrontiert Charmatz seine Haut mit der Berührung seines Gegenteils; er räkelt sich um Hoghe herum, der reglos auf dem Rücken ausgestreckt liegt. Es ist, als könne das physische Ebenmaß sich an seinem Zerrbild gar nicht sattsehen, als wolle er die Erfahrung des Andersseins sich buchstäblich einverleiben, unter die Haut gehen lassen. Charmatz nimmt Hoghes Hand und fährt sich damit über den eigenen Rücken; er sucht, er provoziert, er inszeniert eine Begegnung, die in ihrer sinnlichen und letztlich erotischen Qualität eigentlich ungebührlich, unerhört, unvorstellbar sein müsste. In Wirklichkeit ist es ein Akt der Huldigung, eine Behauptung des Möglichen, eine Inszenierung des Trotzdem. Im satten, aber nie hellen Licht rollt Charmatz das Objekt seiner Begierde schließlich auf die Seite, und aus diesem „Opfer“ eines seltsamen Fetischismus wird ein liegender Akt, dessen difforme Anatomie sich in skulpturale Sinnlichkeit verwandelt.
Am Ende hebt Charmatz, die zum Leben erwachte Marionette, den Puppenspieler Hoghe einfach auf und geht mit ihm nach hinten in die Dunkelheit ab. Es ist, als habe die überlegene Neugier gesiegt, als habe die Makellosigkeit des einen sich an der Merkwürdigkeit des anderen gelabt und Hoghe endgültig zur Votivfigur gemacht.
Der letzte Teil gehört Hoghe dann allein. Mit wenigen, reduzierten Gesten bewegt er sich im Raum, streckt hier die Arme zu einer dramatischen Pose, robbt dort etwas unbeholfen über den Boden, durchquert mit raschen Schritten den Raum, bleibt dann stehen und nestelt an seinem Mantel herum. Im verebbenden Licht tritt er nach vorne und rudert mit den Armen wie ein flügellahmer Engel, ein aus den Wolken gefallener Luftgeist. „Raimund Hoghe, l’ange inachevé“ ist eine Hommage betitelt, die vor einigen Jahren in Frankreich veröffentlicht wurde, „Hoghe, der unvollendete Engel“. Dieses Motiv der Unfertigkeit, in gewisser Hinsicht auch des Deplatzierten, der Fremdheit im eigenen Leibe ist sicher einer der Hauptgründe für den Kultstatus, den Hoghe in Frankreich genießt; und er ist vielleicht auch ein Grund dafür, daß man in Deutschland mit Hoghe so wenig anzufangen weiß. Von der rein physischen zu einer anderen, subtileren Auffassung des Körpers zu gelangen scheint in Frankreich fragloser möglich. Hier verehrt man Hoghe aufgrund seiner Gabe, das Offensichtliche zu unterlaufen. Er steht für die Aufhebung des Gegensatzes von schön und häßlich, makellos und unvollkommen, ebenmäßig und entstellt. Die Bühne soll, darf und kann hier eine neue Wahrnehmung eröffnen, und Raimund Hoghe wird, gerade in einem Projekt wie „Régi“, zu einem Fetisch dieser Ver-Rückung. Dafür ist man ihm in Frankreich dankbar. In Deutschland bleibt er gerade deshalb ein Skandalon.