Notizen beim Festival „Say it now“ in Gent, 17. bis 25. Februar 2006

Theater der Zeit 1 Apr 2006German

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Contextual note
full version of an abridged text published in Theater der Zeit

Sprache als Gegenstand eines Festivals der Darstellenden Kunst? Das hat eigentlich etwas Großspuriges. Die Veranstaltung „Say it now“ im belgischen Gent kommt aber keineswegs überkandidelt daher. Vielmehr stellt man im luxuriösen Jugendstilbau Vooruit, zu deutsch Vorwärts – der gewaltige Komplex ist vor dem 1. Weltkrieg als Gewerkschafts- und Arbeiterkulturhaus errichtet worden – die Frage nach den Anverwandlungen von Sprache, nach ihrem performativen Wert und nach ihrer Aushöhlung im öffentlichen Raum. Nun ist Sprachkritik und -krise eine Erscheinung, die so alt ist wie die Sprache selbst. Bei „Say it now“, konzipiert von den Kuratoren in Gent mit dem Siemens Arts Program, geht es aber auch nicht um eine wohlfeile Sprachverrätselung oder kulturpessimistische Verlustrhetorik. Sondern darum, Positionen vorzustellen, die sich aus aktueller Sicht mit den aktuellen Erscheinungsformen sprachlicher Kommunikation befassen.

Im Proseminar Sprachwissenschaft haben wir einmal die sechs Universalien kennengelernt – Merkmale aller sprachlichen Funktion. Darunter findet sich diese: Sprache ist dialogisch, und sie kann dem Prinzip nach alles sagen. Es gibt also keine „reichere“ oder „ärmere“ Sprache. Der historische, soziale und mediale Kontext zeichnet da natürlich ein etwas anderes Bild. Den Theaterkünsten ist es daher in besonderem Maße aufgegeben, diese Arten der Verwendung, der Anwendung, aber eben auch der Umwendungen und der Ent-Wendung von Sprache und sprachlichen Strukturen nachzuspüren und die unendlichen Prozesse der Filiation zu kommentieren.

„Say it now“ hat hierzu neben Performance-orientierten Arbeiten auch klassische Theaterinszenierungen eingeladen. Vor allem aber gab es einen „Installationsparcours“, eine Reihe von sechs Arbeiten bildender Künstler, dazu Vorträge, Lecture-Performances und Konzerte. Vooruit verfügt über genug Platz, alle diese Angebote unter einem Dach zu präsentieren, und noch dazu gleichzeitig. Dem Festivalbesucher war es also nicht möglich, alle Positionen zu sehen.

Zu den aufwendigsten Punkten im Programm zählte zweifellos die Trilogie „Flatland“ der kosmopoliten Portugiesin Patricia Portela. Sie berichtet dem Zuschauer von den Nöten des Buch-Bewohners, eines Menschen mit nur zwei Dimensionen, eigentlich nur einem Punkt in den unendlichen Weiten bedruckten Papiers. Der erste Teil kombiniert einen unterhaltsamen und ziemlich skurrilen Monolog jenes Flachländers, der durch den Fingerabdruck eines Raumländers – eines Lesers – darauf aufmerksam wird, dass alles, was in seiner Welt geschrieben steht, auch wirklich ist, das aber andererseits erst durch den Leseakt die Wirklichkeit zu sich selbst kommt. Der Flachländer jagt also fortan dem Punkt nach, an dem Text in Wirklichkeit umschlägt. Dazu hat Portela eine aufwändige, großformatige Leseinstallation aufgebaut. In überdimensionaler Buchform erscheinen die vorgetragenen Bekenntnisse, ergänzt um ikonographische Kommentare, bisweilen auch um Videoanimationen, auf einem Projektionsschirm. Manchmal steht das Gelesene auch in Widerspruch zum Gehörten. Eine barocke Sprach-Spielerei, die im Visuellen nahtlos aufgeht. Die Zuschauer werden anschließend „entführt“: Man fährt mit dem Bus auf ein Industrieareal außerhalb der Stadt, wohnt dort einem Terrorquiz bei, bekommt Pizza serviert, ist gezwungen, dem Flachländer bei schwachsinnigen Talkshow-Fragmenten oder billigen Zaubertricks zuzusehen. Schließlich werden wir gerettet, verlassen über eine Notrutsche die Werkhalle und erhalten draußen heiße Schokolade. Das alles wird auf Video aufgezeichnet und speist sich in den Dritten Teil ein, eine atemlose Videoinstallation mit Nachrichten-Schnipseln, mal echt, mal gefälscht. Portela, die als Bühnenbildnerin und visuelle Gestalterin angefangen hat, legte mit „Flatland“ ein eindrucksvolles Debüt vor, dessen kritischer Gestus sich nicht im Aufklärerischen erschöpft.

Den Widerspruch zwischen Bekenntnis und Verschlüsselung, den jede formale Gestaltung, jeder dichterische Zugriff bedeutet, führten eindrucksvoll die „artistwins Katrin Deuffert und Thomas Plischke vor. In ihrem Doppelabend „Directory 1+2“ bauen sie ein Tableau ihres biographischen und künstlerischen Werdegangs auf. Mit anspielungsreichen Texten, mythologischen Hinführungen und wenigen Aktionen, Gesten, Bewegungen erzeugen sie eine Atmosphäre des Erzählens, bei der doch die „eigentliche“ Botschaft unter der Last der Andeutungen fast einzustürzen droht. Diese Dichte zu erzeugen, in der die Aussage ihre eigener Kommentar wird, liegt ihrem dramaturgischen Ansatz zugrunde, den sie selbst als Versuch beschrieben, niemals mit vorhandenen Methoden zu arbeiten und sich nicht auf Ergebnissen auszuruhen. Das heißt aber auch für den Betrachter, kaum je eine Ruhepause zu haben.

Lange Momente des Schweigens sind dagegen in Paul deMarinis’ Installation „Firebirds“ vorgesehen. in einem abgedunkelten Saal stehen vier Vogelkäfige, darin glimmen spärliche Zündflammen. Irgendwann schießt eine Stichflamme empor, die ein Metallgerüst erhitzt. Die Hitze setzt einen Kontakt in Gang, und plötzlich wird das Feuer redend. Man hört die Stimmen von Stalin, Mussolini, Hitler (und F. D. Roosevelt) durch einen Hitzelautsprecher, der in den 1930er Jahren entwickelt wurde. Die Flamme ist tatsächlich der Ton, man kann sein Ohr an den Käfig legen und stellt fest: Sie, und nur sie trägt die Stimme des Diktators. Man muss lange Zeit zubringen in diesem hochgewölbten Kuppelsaal, um alle vier Redner einmal gehört zu haben. Die Immaterialität von Sprache und ihr verheerender Effekt sind selten in so lakonischer und treffsicherer Weise zusammengeführt worden.

Sehr viel direkter arbeitet der französische Choreograph Jérôme Bel in seinem Konversationsstück „Pichet Klunchun and myself“. Gemeinsam mit dem kambodschanischen Tänzer Pichet Klunchun, der die traditionelle Schule des Khon durchlaufen hat, unterhält er sich über Fragen der Schönheit, des Könnens, des Theaters und des Sterbens. Beide erkunden in einem höflich-naiven Austausch das, was sie trennt, und gerade dadurch schaffen sie über fast zwei Stunden hinweg eine immer berührendere Verbindung. Das Sprachliche ist hier gleichsam der letzte Rettungsanker in einem Meer der Unterschiede. In dem hat sich auch Hans Bryssinck im Laufe seiner Reisen durch Südamerika verloren; in seiner Diashow über „Das Unbekannte, das Unaussprechliche, das Unsagbare, das Unerklärliche, das Unbekannte“ berichtet er von den biographischen Unfällen in seinem leben und davon, wie er einmal mit einem Berg getanzt hat, um zuletzt dem Wunsch Ausdruck z geben, irgendwann einmal ein Leben führen zu können, wo er „zu nichts etwas sagen muss“.

Auch dieser Wunsch ist so alt wie die Sprache selbst. „Say it now“ hat aber wieder einmal gezeigt, wie vergeblich ein solcher Wunsch sein muss in einer Welt, die nur doch durch die Sprache mit all ihren Ausstülpungen, Verzerrtheiten, Brutalitäten und Hilflosigkeiten überhaupt als solche sich konstituiert. „Alles ist schon gesagt“, wusste Karl Valentin bereits in den 1920er Jahren, „aber noch nicht von allen.“ Bis es soweit ist, wird weiterhin gesprochen werden müssen. Und wann, wenn nicht jetzt ... ?