Das Monster hat Angst
Zwischen den Monstren und uns besteht ein Pakt. Für die Aufrechterhaltung dessen, was Gesellschaft sich als ihre „Normalität“ konzipiert, spielt das Monströse eine konstruktive Doppelrolle. Es ist ihr dunkler Zwilling, ihre Negation, aber gleichzeitig ihre Bestätigung und ihr Produkt. Sein Hyde ist dem Dr. Jekyll noch ein diabolischer Widergänger. Der Untote Nosferatu konsumiert das Menschliche nur mehr als Flüssigtreibstoff durch Selbstbedienung an der Halsschlagader. Der Klassiker schließlich, der alte Affe King Kong, steht für die in einem Akt neuzeitlicher Hybris erfolglos unterworfene Kreatur. Alle treiben sie ihr Unwesen, ob zwanghaft, vegetativ oder entwurzelt und verschleppt, mitten unter uns. Ihr Hintergrund ist das ganz Andere, Ungestalte. Und doch kommen sie nicht aus dem Nirgendwo, nicht aus einem herrenlosen Reich des Monströsen, das Begriffe und Prinzipien unserer Realität, die es missachtet, auch übersteigt. Sie sind den Hirnen der Herren Stevensen, Murnau, Cooper entsprungen, und also so gefährlich wie fiktiv. Die Monster unter uns sind immer schon erzählte, vermittelte, ausgestellte, gezeigte, geträumte, imaginierte, gleichzeitig Kinder des/der Normalen und die Achse, an der es ausgehebelt zu werden fürchtet - und dieser Januskopf lässt sich von zwei Seiten betrachten. Meg Stuart entscheidet sich wie gewöhnlich für das Gesicht, das für gewöhnlich nach hinten zeigt und kehrt das Unterste zu oberst. Die amerikanische Choreografin hat mit ihrem Ensemble Damaged Goods die erste Premiere in einer neuen regelmäßigen Zusammenarbeit mit der Berliner Volksbühne herausgebracht.
Angesiedelt ist „Replacement“ in und um ein spartanisch mit Tisch, Stuhl, Deckenleuchte möbliertes, nach vorne offenes Raumsechseck, das Dank Hydrauliktechnik 360 Grad um die eigene Achse rotieren kann. Ein schöner Effekt, der spät zum Einsatz kommt und die Tänzer wie verlorene Wäschestücke in der Trommel hin und her wirft. Bereinigung gibt es natürlich keine. Dafür schichten und falten sich die Aktionen, während sie vordergründig mit Tanztheater-Attitüde verzerrte, überdrehte, umgestülpte, überschriebene Spielarten von Norm bis Abnorm vorführen, immer komplexer. Worte überschlagen in Schreie, Gebrabbel, tierische Laute. Ständig oszillieren die Haltungen zwischen Roboterpräzision und unkontrolliertem „freak out“. Idyll, Hölle und Kindergeburtstag, Sehnsucht und Qual, Genuss und Langeweile durchlaufen die acht Performer in einer zahmen tour de force.
Manchmal steht Meg Stuart mit dieser Ästhetik der Hässlichkeit, die ihr so sehr liegt, dieses Mal kurz vor dem Manierismus. Ihr Entwurf einer anormalen Parallelwelt bedient sich einer perfektionierten und etablierten Tanzsprache. Wer aber das Monströse als fiktiv und gleichzeitig hyperreal begreift, muss sich dem Monster als Akteur und Schausteller auf einem Theater zuwenden, in dem Gesellschaft sich ihrer selbst versichert. Mit Hilfe der subtilen Kamera-Arbeit von Chris Kondek gelingt dieser Dreh: Zwei Videoscreens glätten die Anti-Dramaturgie der ständigen An- und Ausfälle. Sich und ihre Disfunktionen in den Vordergrund schiebende Körper werden im Film neutralisiert. Dann stehen sie neben Stuhl und Wand wie Elemente in einer Landschaft, in der wieder andere Gesetze gelten. Wenn im Endtumult Welt, Raum und Tänzer ins Trudeln und Stürzen kommen, kehrt auf den Monitoren aufgeräumte Leere ein - immer dann, wenn unten oben ist und die selbst ernannten Unmenschen der Schwerkraft folgend, ganz irdisch aus dem Bild fallen. Die Kamera ist fest im Raum mit Blick auf Tisch und Stuhl montiert und sieht nur, was sie sieht. Dass der Stillstand ihrer Bilder rast und sie selbst mit, bleibt ihr verborgen. So und nur so kommen sich Meg Stuarts Monstren selbst auf die Spur. In einer Freakshow. Dort ist wie im Theater alles Ansichtssache: Zum Schluss nimmt ein Monster die Gummifratze ab. Es sieht die Kollegen und läuft schreiend davon. Das Monster hat Angst. Dann hat es Feierabend.