Das Abnormale, gesteigert
Two Fish verarbeiten "Irre" von Rainald Goetz am HAU in Berlin
Im heimischen Aquarium schwimmen keine Haie. Es gibt keine Untiefen. Alles ist berechenbar. Kein Überlebenswettkampf stört das adrett unterkieste Miteinander. Geputzt wird regelmäßig, gefüttert ausreichend. Komische Typen bevölkern die Zwangs-WG hinter Glas. Sehr bunt, sehr verschieden. Einen Schuss weg haben sie alle, aber putzig sind sie, Charakterfische á la „Findet Nemo“.
Two Fish und Rainald Goetz, was für ein Paar, dachte man. „Irre“ in der Fischwelt, bestimmt ein Treffer. Seit bekannt wurde, dass das freie Berliner Ensemble des Schauspielers Martin Clausen und der Tänzerin Angela Schubot den Roman für die zweite Bühne des Hebbel am Ufer adaptieren würde, wuchs der Erwartungsdruck. Schließlich hatte man Two Fish in den letzten zwei Jahren zu Hoffnungsträgern eines jungen, unverbrauchten Tanztheaters erklärt. Bekannt geworden waren sie durch ihren „Christiane Müller“-Zyklus, verspielte Inszenierungen in leeren Wohnungen. Kleine Interventionen zwischen Kloschüssel und Küchenspüle, zutrauliche Banalitäten, hinreißend geplappert und gezappelt von Gleichen unter Gleichen mit jungen, sehr jungen Themen: Wie finde ich zu mir? Oder zu anderen? Oder wie finden andere mich? Two Fish stellen Fragen, die so nahe liegen, dass man glaubte, längst über sie hinaus zu sein. Doch sie stellen sie so hemmungslos, naiv und beharrlich, dass Weghören schwer fällt. Zum ersten Mal arbeitete die Gruppe nun mit einer literarischen Vorlage. Es ging daneben, vorerst. Zur Premiere kam ein unfertiges Stück.
Dreigeteilt hat man geprobt und das Material spät zusammengesetzt. Nun stehen sich die von Martin Clausen angeführten Schauspieler, vier Tänzer unter Leitung von Angela Schubot und sie selbst, die isoliert ein ihr von Javier Alemán Morillo stark auf den Leib choreografiertes Solo durchspielt, oft im Weg. Das bleibt auch so, wenn man die Tänzer von der Bühne schickt, damit die Schauspieler Platz haben und die Schauspieler beiseite setzt, wenn sie mit dem Sprechen fertig sind. Zu den Stärken des Romans mit seiner Wortprotzerei und dem Pop von Vorgestern zählen die Fallstudien, kurze, deutliche Skizzen von Einzelnen, Patienten, Exempeln. „Irre“ ist gleichzeitig psychedelisch und dekorativ, eine Ornamenttapete aus Verhaltensmustern: das Abnormale, gesteigert bis zu neuer Normalität.
Bei Two Fish verschwimmt mit Ausnahme von Schubot und Clausen Vieles in Gruppentherapie. Es dominiert das auf sich selbst fixierte Ego, das es in der so sorgsam sortierten szenischen Anordnung zu gemütlich hat. Die Tänzer spielen meschugge. Sie platschen durch einen imaginären Ozean und proben „sunset“ mit einem knallorangen Badeschwamm als Sonne. Thomas Conway lässt sie auf Zuruf sinken und steigen. Wenn sich die Ausnahmezustände doch einmal vereinzeln und konzentrieren, greift das nächste Problem, der Raum: ein schwarzes Loch, leer und nackt bis auf die Brandmauer. Der Untergang ist vorprogrammiert. Auch ein Schlagzeuger, der vor der Tür hin und wieder Lärm macht, bietet da kaum Halt, noch wird daraus eine Chiffre für die Haltlosigkeit. Verena Fleißner denkt laut: „Also: umgeb ich mich jetzt lieber mit was, das mich an was Angenehmes erinnert oder an was Unangenehmes oder besser mit was, das mich an nix erinnert und das ich genau deshalb besonders toll oder besonders doof finde.“ Hier hätten sich besser die Einen mit den Anderen umgeben. Die Inszenierung gewinnt, sobald sie sich das Nebeneinander zumutet. Dann nämlich schließen sich die neun Denk- und Aktionskokons ab und für Sekunden auf wie ziellose Signalleuchten. Dann geht es dem Zuschauer selbst an die Nerven. Dann kommen auch die Texte, die nicht dem Goetz-Roman, sondern der Feder der Darsteller entstammen, im passenden Bezugsgefüge nicht auf den Punkt und driften vorüber als sonderbare Hörschleifen. Die Funktionsstörung beginnt im Alltäglichen, da haben Two Fish schon Recht. Doch ist das Aquarium ein sehr enger Ausschnitt von Alltag.