Perpetuum mobile.
Tanz in Berlin zwischen Selbstheilung und Verschleiß
Ein Text dieser Art könnte sich in Beschreibungen ergehen. Er könnte bildreich einzelne Choreografen preisen und andere abstrafen. Er könnte erklären, was Tanz in Berlin bedeutet. Etwas Ähnliches ist hier beabsichtigt, allerdings ohne vorweg zu nehmen, was die nächsten Seiten leisten. Den Unerschütterlichen, die sich für das ästhetische Wohl des Tanzes verantwortlich fühlen, sei gesagt: Man muss sich um die Kunst nicht sorgen. Sie überlebt. Immer. Man kann sie schön reden und schlecht machen. Am Ende setzt sich die künstlerische Praxis als Realität, an der kein noch so findiger Interpret oder Kulturdezernent vorbei kommt, immer selbst. Diese Tatsache, die den Beruf des Kritikers überhaupt erst praktikabel und den des kulturpolitischen Entscheidungsträgers zumindest leichter macht, sollte allerdings ein Ansporn und kein Ruhekissen sein. Darin besteht eine alte Berliner Krankheit. Man nimmt die Dinge chronisch leicht, schließlich laufen sie immer irgendwie.
Die Fakten scheinen für sich zu sprechen: Die Lücke einer Tanzausbildung, die in eine Zeit passt, in der Stile und Fragestellungen global verfügbar sind und jeder Choreograf anfangs sein eigener Raumgestalter, Lichtdesigner, Dramaturg, Techniker, Buchhalter, Dolmetscher und Physiotherapeut sein muss, klafft in Deutschland weiter. In Berlin hat sich die Probenraum-Situation so dramatisch verschärft, dass kürzlich ein einziges leckes Turnhallendach die halbe Herbstproduktion an Tanzstücken lahm legte. Ein Produktionszentrum könnte diesem Engpass abhelfen und den zeitgenössischen Tanz mit seinen aus Überzeugung, oft aber aus Not eingeübten nomadischen Arbeitsweisen durch einen fixen, zugänglichen Ort stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken, Berührungsängste abbauen. Allein, es fehlt. Dafür wird das Podewil 2005 zum Zentrum für Medien- und Klangkunst - einer der wenigen Orte, wo Künstler wie Xavier Le Roy oder Thomas Lehmen, die sich Berlin gern als gefragte Tanzexporte zurechnet, bisher eine Basis für Recherche und Produktion fanden. Ob und wie die TanzWerkstatt und das artist in residence Programm im Podewil weiter bestehen, ist fraglich.
Aus den Stadt- und Staatstheatern verschwand der zeitgenössische Tanz fast ganz. Von der Zusammenlegung der Opernballette blieb nur eine schlecht umgesetzte, irgendwann einmal gute Idee und von drei angedachten Teilensembles klassischer, klassisch-moderner und zeitgenössischer Ausrichtung eines übrig. Diesem in seine Jungfernspielzeit gestarteten „Staatsballett“ ist durch seinen weltgewandten Intendanten Vladimir Malakhov (man kann ihm nach der Erfolgsbilanz als Ballettchef der Staatsoper nur alles Gute wünschen) die traditionelle Prägung vorgegeben. Die Vorzeigeunion von Tanz und Schauspiel an der Schaubühne ist nach nur vier Jahren am Streit um die Finanzen und unvereinbaren Ansprüchen beider Seiten gescheitert. Wer auszieht? Der Tanz natürlich. Sasha Waltz geht. Und sie bleibt. Glück für Berlin, dass die Choreografin hier den Raum für ihre Arbeit sieht und sich nicht von einem der hoch dotierten Angebote wohin auch immer abwerben ließ. Dank Vermittlung und unabhängiger Subventionierung durch Bund und Land wird Waltz mit der Schaubühne weiter kooperieren, wenn sie sich im März 2005 wieder selbstständig macht. So bleibt an einer einzigen großen Bühne zeitgenössischer Tanz auf dem Spielplan. Verstärkung kommt erst, wenn die furiose Meg Stuart mit ihrem Ensemble aus Zürich an die Volksbühne wechselt.
Ein innovativer Ausbildungsgang. Adäquate Produktionsbedingungen. Eine die verstreuten Energieherde der freien Tanzlandschaft kommunizierende und bündelnde Anlaufstelle, in der auch ein Medienarchiv oder eine Bibliothek Platz fänden. Eine offene Hintertür zu den Sälen der Hochkultur. All das existiert nicht in Berlin. Trotzdem wirkt die Stadt weiter wie ein Magnet. Waren es erst die Choreografen, die zuzogen und irritierende, ehrgeizige, anarchistische, halbgare oder formschöne Impulse mitbrachten, kommen heute immer mehr Tänzer mit anderswo erworbenen Qualifikationen her, um zu leben und zu arbeiten. Das tänzerische Niveau zieht weiter an - eine Voraussetzung dafür, dass sich Komplexität und Klarheit choreografischer Handschriften steigern können.
Die TANZNACHT ist die eine Nacht, in der auch Politiker Berlin als Tanzstadt preisen. Sie schmücken sich mit fremden Federn. Ohne die Energie, die Künstler und Veranstalter aufs Improvisieren, auf Kompensation und Selbstheilung verwenden und das Geld, das sie in Privatbürgschaften für Festivaletats und Mietverlängerungen riskieren, die durch Haushaltsperren zum entscheidenden Zeitpunkt mal wieder ungedeckt blieben, wäre Berlin als Tanzstadt von weltweitem Ansehen nicht denkbar. Fast schon erheiternd ist die Absurdität einer Förderpraxis, die Choreografen mit Geld ausstattet, wissend, dass sie vermutlich kein Theater finden, um aufzutreten. Die Gründung des HAU, das als „Hebbel am Ufer“ das Theater am Halleschen Ufer und das Hebbel Theater schluckte - Hauptspielort der freien Tanzszene und Mitausrichter der TANZNACHT die eine, wichtigste tanzoffene Gastspielbühne und Veranstalter des internationalen Festivals „Tanz im August“ die andere Institution - war ein guter Griff. Doch ist klar, dass auch ein breites Spektrum dort mit Analysten wie Tino Seghal, Jung-Irrlichtern wie TWO FISH, der Spektakelqueen Constanza Macras oder der spartanischen Ästhetin Anna Huber nicht die volle Bandbreite bedienen kann. Über ein offenes Haus für geförderte Einzelprojekte wird trotzdem nicht nachgedacht.
Zu lange stand die Runde der Tanzveranstalter einem Argument eher hilflos gegenüber, mit dem die Kulturverwaltung bisher noch alle Anläufe für ein Choreografisches Zentrum ausgebremst hat: Jede Art von Institutionalisierung müsse die Unterstützung „der Szene“ finden, damit deren magisches, dezentrales anything flows nicht am Ende Schaden daran nehme. Man instrumentalisiert Ängste, die im Berliner Tanzgefüge aus der Erfahrung heraus bestehen, dass selten investiert wird, ohne dass man andernorts das Doppelte einspart. Ist je Einer auf den Gedanken verfallen, die Leiter der Berliner Theaterspielstätten hätten über das Profil jeder neuen Institution mit einer Stimme ihr Placet zu sprechen? Doch die Zeit drängt. Es sind viele Chancen zu vergeben. Mit 1,55 Millionen Euro ausgestattet, richtet Gabriele Brandstetter als erste Tanzprofessorin Deutschlands an der Freien Universität ihr Labor für Tanzwissenschaft ein. 2,5 Millionen Euro stehen hinter dem so poetisch betitelten „Tanzplan Deutschland“, den die Kulturstiftung des Bundes im Sommer verabschiedete und damit die Aufnahme des Tanzes unter die, noch poetischer, „Leuchttürme der Gegenwartskunst“ beschloss. Innerhalb von fünf Jahren soll der Tanz in Bereichen wie Ausbildung, Produktion und Theorie gestärkt werden. Das ist der Moment, um sich auch in Berlin zu einer strategischen Bündelung der Kräfte zu disziplinieren und offensiv voran zu treiben, was überfällig ist.
Die Tanzfabrik hat einen Vorstoß mit ihrem Konzeptpapier für ein interdisziplinäres Tanz-/Choreografiestudium gemacht. Allerdings sind dem internen Beobachter weitere Berliner Vorhaben bekannt, die diese Richtung für sich reklamieren - was zum alten Gerangel führen könnte. Auf der anderen Seite hat sich gerade eine Handvoll wichtiger Veranstalter und Produzenten auf Initiative des Dachverbands Zeitgenössischer Tanz Berlin zusammengeschlossen, um gemeinsam mit dem Senat den ersehnten Ort für Arbeit, Austausch und Ausbildung zu konzipieren und in geeigneten Räumen anzusiedeln. In der fabrik Potsdam vor den Toren der Stadt steht Vielversprechendes bevor: Gefördert durch die Bundeskulturstiftung wird im Frühjahr ein Symposium mit Tänzern, Choreografen, Theoretikern sowie Dozenten und Absolventen wichtiger europäischer Zentren wie SNDO Amsterdam, PARTS Brüssel oder dem Laban Center London Lehrplan und Organisationsform für eine Ausbildung erarbeiten. Vertreter aus Berlin sind an führender Stelle beteiligt: Der Choreograf Martin Nachbar ist einer der Organisatoren. Noch eine Chance. Wer jetzt die Gunst der Stunde und die Synergien, die sich aufdrängen, nicht nutzt, müsste als unbeweglich gelten. Und das ist der zeitgenössische Tanz nun wirklich nicht.