Schöne neue Mitmachwelt

"insideout" von Sasha Waltz will an der Schaubühne Biografien installativ begehbar machen

Kieler Nachrichten 1 Oct 2003German

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Die globalisierte Welt ist ein großes, verwinkeltes Haus und von allen Seiten zugänglich. So scheint es, wenn man zum ersten Mal hinein oder durch eines der Fensterlöcher hinaus schaut. Da gibt es Schlitze wie Schießscharten, vor denen man nieder knien muss, um hindurch sehen zu können. Kleine viereckige Läden mit den Fotos eines Familienstammbaums klappen auf und zu. Vitrinen werden zu Schaufenstern.

Man wittert in „insideout“, das Sasha Waltz mit dem Steirischen Herbst Graz koproduziert hat, zuerst eines dieser spektakulären Puppenhäuser, die sich Theatermacher leisten, wenn ihnen die Ideen ausgehen. Ein Mitmachlabyrinth, das den bewegten mit dem sich bewegenden Zuschauer verwechselt. Oder gar eine monströse Multikulti-Tanztheater-Kuckucksuhr, die hinter jedem Ländertürchen einen passenden Prototypen parat hat: Beim Wandern treppauf und treppab begegnet man der Schwedin im Schneeriesel, der Asiatin im strengen Stehkragenkleid und der Neuseeländerin auf einem Highway aus Klebeband. Der Anspruch auf die leibhaftige Verarbeitung von Tänzer-Biografien und ihre wie es heißt, „offen“ erschließbare Ausstellung, die als solche weitgehend unreflektiert bleibt, wecken Misstrauen.

Dass die Anregung eines Soziologen dieses Projekt über den Wandel von Werten, Lebensstilen und Identität heute initiierte, bleibt als hölzerne Note spürbar. Dazu will die verspielte Freude am optischen Effekt, der Sasha Waltz in zunehmend wider das Konzept in klassischer Frontalsituation gespielten Passagen nachgibt, so gar nicht passen. Tief greifende Missverständnisse zwischen den Konzeptmachern offenbart außerdem das Buch, das der besagte Soziologe Karl Stocker zum Stück herausgegeben hat. Sein Mix aus Interviews und Privatfotos des Ensembles mit willkürlich eingestreuten philosophischen Häppchen von Baudrillard bis Bourdieu mutet an wie das Tagebuch einer lässigen Studentenfahrt.

Sasha Waltz hat mit jedem der 19 Tänzer zunächst einzeln geprobt und die Persönlichkeiten abgetastet. Daraus resultieren aber nicht nur Soli, sondern das gewonnene Material wurde in der Gruppe umverteilt. In einer mit Metall ausgeschlagenen Kühlkammer sitzt ein vom Hut übers Gesicht bis zu den Plateaupumps mit Pepitakaros bedeckter Mann im Kunstschnee. Eben noch robbte im Untergeschoss Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola am Boden entlang und zeichnete mit Kreide Stationen seines Lebensweges auf: Amsterdam, London, Berlin. Jetzt tauscht dort auf der spurlos leer gewischten Stelle ein Pärchen Zärtlichkeiten aus. Doch „insideout“ entwickelt seine Stärke nicht aus den einzelnen Szenen, die oft ihrem eigenen Charisma verfallen. Die Vielfalt irritiert und, hier wird es interessant: Sie ermüdet, ja langweilt. Nur wer die Kraft aufbringt, das große Ganze zu Gunsten des Einzelfalls immer neu auszublenden, gewinnt Einblicke. Dieser Overkill, die Kapitulation der Sinne vor der Welt in der Kuckucksuhr wirkt körperlich nach. Man wird allerdings den Eindruck nicht los, dass dieser spannendste Aspekt eher zufällig abfällt.