Vom blinden Fleck aus betrachtet

Behauptungen von Erinnerung, Geschichte, Biografie verdichteten sich beim 17. „Tanz im August“ in Berlin zu verkörperter Zeit.

Theater der Zeit 1 Oct 2005German

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Tanz existiert, ohne dass er eine Existenz hätte. Weil Bewegung nur im Moment ihrer Ausführung Bestand hat und, ist der vergangen, in eine Art reglosen Schlummer fällt, aus dem es kein Aufwachen gibt. Nicht die komplexeste Notation, nicht Filmaufzeichnung oder Umschreibung kann Bewegung so speichern, dass sie sich wieder aktualisieren ließe. Auch das Körpergedächtnis des Tänzers und die Erinnerung des Zuschauers müssen vor dieser Aufgabe kapitulieren.

Olga de Soto, fünf Jahre Assistentin von Jérôme Bel und in Brüssel als Choreografin basiert, hat aus der Distanz von sechzig Jahren ein Ballett aufgesucht. Es ist kahlköpfig, auch korpulent, kurzatmig, auf greise Weise mädchenhaft, still oder großspurig. Es sitzt vor ihrer Kamera. In Gestalt von acht Personen, die wiederum am 25. Juni 1946 im Pariser Théâtre des Champs Elysées in der Uraufführung von „Le jeune homme et la mort“ saßen. Choreografie: Roland Petit. Libretto: Jean Cocteau. Tanz: Jean Babilée und Nathalie Philippart.

Wir sehen und hören in „histoire(s)“ diese Zeugen aussagen, angestrengt ihr Gedächtnis durchforsten. Nach Überbleibseln von Tanz. De Soto fand sie über eine Anzeige im Figaro. Personengesuche stehen dort direkt unter den Todesanzeigen. Verlorene zu Verlorenen. Wenn Madame Batbedat oder Monsieur Merlin sich erinnern, erfahren wir alles und nichts. Trug die Ballerina Rot? Oder Gelb? Hat der Protagonist sich nun aufgehängt oder starb er an gebrochenem Herzen? Die Details sind banal. Und sie sagen alles. Denn der Augenblick Kunst von 1946 ist verwachsen mit der Wahrnehmung, in die er eingelagert ist, gebettet in Lebensverläufe. Er wird erinnert vor der Folie Krieg, als erhebendes, weil nur fiktives Leid, als artistische Glanzleistung. Über mobile Leinwände, die de Soto und Vincent Druguet wie Bühnenarbeiter live im Raum arrangieren, spannen sie zwischen den im Video eingefangenen Stimmen und Gesichtern einen spekulativen Raum auf, nicht wirklich für den Tanz, der abwesend bleibt, sondern sein Double, eine Choreografie aus Zuschauerporträts.

Gegründet 1989 zur Horizonterweiterung der nicht mehr eingemauerten Stadthälften von der damaligen Intendantin des Hebbel-Theaters Nele Hertling, hatte Berlins Sommerfestival „Tanz im August“ schon immer eine Schwäche für große Namen, und sie übertönen regelmäßig seine wirklichen Kostbarkeiten. Auch in der 17. Ausgabe mischte man pflichtschuldig Compagnien wie Rosas oder Batsheva Dance, von denen die seit zwei Jahren von TanzWerkstatt und Hebbel am Ufer gestellten Kuratoren meinen, wir müssten sie regelmäßig zu Gesicht bekommen, mit weniger glamourösen Projekten. An so unterschiedlichen Orten wie der Staatsoper und den Sophiensaelen, dem HAU und der Halle, dem Podewil (neuerdings Podewils'sches Palais) oder dem Haus der Festspiele wurden insgesamt 24 Produktionen gezeigt, davon 5 Uraufführungen und 7 Deutschlandpremieren.

Was die Publikumsresonanz angeht, ist man erfolgreich wie nie: Rund 16.000 Besucher bescherten dem Festival eine Platzauslastung von 97%. Und man konnte den Eindruck gewinnen, dass sich die Zusammensetzung des Publikums verändert. Die übers Jahr oft unter sich bleibende Szenegemeinde mischte sich mit Zuschauern, deren Bild von zeitgenössischem Tanz offenbar relativ unverdorben vom aktuellen Kunstgeschehen ist. Sie wurden natürlich mehr als einmal vor den Kopf gestoßen, und machten mit ihrem lautstarken Protest so mancher Produktion zu schaffen. Aber auch, wenn man die Qualität von Stücken nicht an ihrem „Tanzfaktor“ misst, gab es durchaus zwiespältige Uraufführungen wie von Constanza Macras und zwei glücklose Improvisationen auf Einladung von Meg Stuart. Die Auseinandersetzung von zeitgenössischem und klassischem Tanz floppte mit Marie Chouinards Krückenballett „bODY_rEMIX/gOLDBERG_vARITATIONS“ und der Absage von Staatsballettintendant Vladimir Malakhov für seinen Auftritt bei der Begegnungsgala „4D“. Dafür thematisierten wunderbare Kammertanzstücke die Verfasstheit und Verfügbarkeit der eigenen Geschichte.

Bei Olga de Soto zerfällt sie in Geschichten, „histoire(s)“, wenn zurück auf die Bühne geworfen, also fiktionalisiert wird, was das Geschehene bewahrt, infiltriert, am Leben erhalten hat und zugleich an seine Stelle getreten ist: subjektive Eindrücke auf sechzehn Netzhäuten in acht Gedächtnissen. Dabei hat Tanz Geschichte geschrieben, wie lückenhaft dokumentiert und aufgearbeitet diese auch sein mag. Sich in Tanzhistorie zu bewegen, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren, erfordert die Diszipliniertheit des Historikers gepaart mit der Fähigkeit, Lücken und blinde Flecken als konstitutive Züge eines immer flüchtigen Untersuchungsgegenstandes zu betrachten. Den Grund, auf dem sie Halt findet, muss eine solche Unternehmung erst herstellen. Sie wird damit paradigmatisch für ein philosophisches Verständnis der historischen Disziplin, das beginnend mit Nietzsche einen Shift von der Rekonstruktion hin zur Konstruktion von Realitäten durchgemacht hat.

Die Französin Julia Cima, enge Mitarbeiterin von Boris Charmatz, hat Tänze einstudiert, die von 1913 bis 1985 choreografiert wurden. Das Solo „Visitations“ reiht diese Fragmente aneinander. Es will nicht rekonstruieren, sondern nennt sein Projekt Interpretation. Wie in „histoire(s)“ schneiden sich die Zeiten im konkreten Körper, hier nicht dem des Zuschauers, sondern dem der Tänzerin. Erst nach der Uraufführung bestätigt ein am Ausgang ausgegebenes Faltblatt, was es zu sehen gab: Cunningham, Nijinsky, Isadora Duncan und Béjart, Valeska Gert, Tatsumi Hijikata. Und Cima. Sie stellt sich in den Dienst der Stücke und ihrer Körperbilder oder dessen, was davon überliefert wird oder aufgezeichnet ist. Indem sie sich die fremden Tänze aneignet, fügt sich aus bloßen Quellen, auch wie bei Nijinskys „Sacre“ bekanntermaßen disparaten, wieder ein mächtiges Ganzes. Fast hallt in Julia Cimas hellwacher, biegsamer Präsenz das alte Versprechen der Verschmelzung von Werk und Interpret im Virtuosen nach. Gleichzeitig halten aber die Fremdheit und Distanz des choreografischen Materials zu seinem Medium, der Tänzerin, die Kluft zwischen dem, was das eine einmal gewesen sein mag und wer die andere heute ist, immer offen.

In der Staatsoper mischte sich mit Jérôme Bel jemand ein, der strategisch zerklüftete, minimalistische Wahrnehmungsflächen mit der Sorgfalt eines Landschaftsarchitekten anlegt. Die Anfrage der Pariser Oper, für ihr Ballett zu choreografieren, beantwortete er 2004 mit einem Solo für die 41jährige Halbsolistin Véronique Doisneau - als Besetzung vorbei an den Solisten und Primaballerinen ein Affront gegen die Hierarchiegesetze dieses Mikrokosmos. Aber das Auftreten von Véronique Doisneau in „Véronique Doisneau“ als Véronique Doisneau, ihr Reden über ihre Arbeit und die Demonstration von Traumrollen und Traumata, wäre billig als nur dekonstruktivistischer Schachzug. Zwar sprengt die inspirierend reale Person Doisneau, allein als Fiktion auf der großen leeren Bühne, das Ballett als angeblich undurchlässigen historischen Bestand mit links auf. Aber sie setzt es tanzend auch als lebendige, emphatisch vorgetragene Äußerung und legitimiert es so neu, aus eine Position der Überlegenheit, nicht der Unterordnung.

Dass Ballett in seinen kanonischen Bestandteilen, Posen wie einer Arabeske, keinerlei eigene Realität besitzt, ist eine der meistzitierten Aussagen von William Forsythe. Ein Repertoire von abstrakten Idealen ließe sich lediglich durchqueren, umkreisen und durchkreuzen mit Varianten, Modulationen, Adaptionen. Ausgehend vom klassischen Vokabular verflüssigt Forsythe es in einer sich endlos ausdifferenzierenden Umgangssprache, die den Sprecher, den Tänzer als Interpreten und Ursprung, als Gedächtnis und Agens von Bewegung an Anfang und Ende des Tanzes setzt. Er ist sein blinder Fleck, wenn er Choreografie in Echtzeit verfasst und dabei über eine meist sekundengenau abgemessene Zeitspanne die verschwindenden Formen unaufhörlich liest und überschreibt, sie auslöscht und gleichzeitig bestätigt, indem der Fluss des Tanzes sie in einen Zustand der Dauer überführt.

In der begehbaren Installation „You Made Me A Monster“ teilen sich Tänzer und Zuschauer denselben Raum. Zwischen Tischen, auf denen aus vorgestanzten Pappknochen von Skelett-Bastelbögen in gemeinsamer Kniff- und Faltarbeit monströse Architekturen entstehen, teilen sie sich auch die Verantwortung für alles, was geschieht oder besser: gesehen, begriffen, konstruiert und womöglich erinnert wird. Ein dezent projizierter Text ruft mit dem schleichenden Krebstod der ersten Frau des Choreografen ein zehn Jahre zurück liegendes Martyrium auf, so beiläufig wie eine Fußnote. Davor vertanzen und vertonen Christopher Roman, David Kern und Nicole Peisl vage hingestrichelte Bleistiftskizzen der wuchernden Papiergebilde. Die Stimmen und Körper schmiegen sich den vorgefundenen Formen an, ohne etwas zu repräsentieren. Das Publikum nimmt Anteil, doch ohne den Trugschluss vieler interaktiver Performances, es mache hier das Theater - mehr als sonst. Dieser Zustand leerer Fülle, ein gleichsam überquellendes Vakuum, das sich im Auge des Zuschauers abzeichnet, ist verkörperte Zeit. Ein Modell von Trauer, Erinnerung, Interpretation, Biografie, Geschichte(n), Tanz.