Querfeldein gefragt: Was ist tanzlos?

Das Berliner Hebbel am Ufer (HAU) etabliert mit „Context“ eine Plattform für zeitgenössischen Tanz

Theater der Zeit 1 May 2004German

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Als das Berliner Hebbel am Ufer die erste Ausgabe seines Festivals „Context“ im Februar mit der Unterzeile „Über Autorschaft“ versah, ließen die Kommentare nicht lange auf sich warten. Von Beliebigkeit war die Rede, von Intellektualismus, ja überhaupt von der Überflüssigkeit profan sprachlich artikulierter Fragen an den Tanz, den herrlichen, selbstherrlichen, die ihn „keinen Schritt weiter“ brächten. In den drei Häusern des HAU drängelten sich derweil die Besucher, und das nicht nur, wo es wie bei François Verrets sich symbolträchtig an Objekten und Accessoires abarbeitender Verarbeitung von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ viel zu sehen gab. Auch die begleitenden Gespräche, Vorträge und Podien zogen Publikum.

Bettina Masuch, die Tanzkuratorin im Team von Matthias Lilienthal, hat mit ihrer Frischzellenkur für den alten Hebbel Theater-„TanzWinter“ einen Raum der Auseinandersetzung, eine Fragestelle eingerichtet. Dieses Konzept ist nun wirklich nicht neu, und es ist umso verwunderlicher, wie viele Menschen vom Fach sich doch bemüßigt fühlten, es zu belächeln. Zwar ist das Festival, seit sich der zeitgenössische Tanz aus den städtischen Mehrspartenhäusern mehrheitlich ausgeklinkt hat, und, wo er das selbst nicht tut, ausgeklinkt wird (William Forsythe in Frankfurt, Amanda Miller in Freiburg), zu seiner häufigsten Präsentationsform geworden. Sie erleichtert den Veranstaltern das Akquirieren von Fördergeldern, ökonomisiert die Werbung, bündelt die Aufmerksamkeit. Mehr als eine gemeinsame Broschüre und ihr temporärer Obertitel verbindet die präsentierten Produktionen allerdings selten. Viele Kuratoren in Deutschland lehnen im Gegensatz zu ihren Kollegen anderer Genres thematische Leitlinien ab. Bloß einschränkend seien sie, dogmatisch und kontraproduktiv.

„Context“ warf sein Motto aus wie einen Angelhaken. Eingetaucht in die stilistisch unterschiedlichsten Produktionen, förderte es Sprechakte zutage und ging auf Konfrontation mit der Ansicht, ein herkömmliches „Sprechen über“ würden der Tanz und sein Kommunikator Körper abschütteln wie eine lästige Fliege. Die Stücke von Verret, von Lia Rodrigues oder collect-if hielten unter der Lupe der Autorschaft, die die Plattform zwischen Choreograph und Tänzer, Formung und Fluss, Verschlüsselung und Verschlossenheit verortete, erstaunlich still. Der Berliner Martin Nachbar führte anhand seiner Rekonstruktion der „Affectos Humanos“ der Ausdrucktänzerin Dore Hoyer aus und vor, was die Aneignung von historischem choreographischen Material körperlich und verbal mit sich bringt. Hier zeigte sich Rede als Fußnote, Störfaktor und Strategie. Nachbar holt Bewegung aus der Totenstarre. Und er lässt sie in Echtzeit dorthin zurückfallen, wenn der nachgetanzte und im Zeiten- und Geschlechterwechsel trotzdem neu erfundene Tanz endet. Gegenwärtigkeit ist eben auch nur ein Konzept.

Apropos Konzept. Die zweite Woche von „Context“ gehörte den Konzeptkünstlern. Das sind, der neuerdings so beliebten Unterscheidung zwischen „Konzept-Tanz“ und „Tanz-Tanz“ zu Folge, die Künstler, die Konzepte haben. Den Begriffen nach wären „Tanz“ und „Konzept“ dann Alternativen, zwischen denen man wählen muss. Trotz ihrer Fadenscheinigkeit halten sich „Tanz-Tanz“ und „Konzept-Tanz“ hartnäckig in der Diskussion, fanden sich dieses Jahr sogar im Wortschatz der Jury der Deutschen Tanzplattform zur Charakterisierung der Vielfalt ihrer Auswahl wieder – von denen, die tanzen hin zu denen, die denken oder wie? Zu den Choreographen, denen diese Kategorisierung Reflexionskompetenz zu-, aber die tänzerische abspricht, würde man wohl Tino Seghal, Mårten Spångberg, Xavier Le Roy oder Jérôme Bel zählen. Wo bliebe dann aber Russell Maliphant, dessen Bewegungsalphabet durchkonstruiert ist wie ein Kanon gestochener Schriftzeichen? Meisterhaft legen sie sich über ausgewählte Segmente von Welt und schließen sie ein wie der Bernstein die Fliege. Maliphants Körperkalligraphien auf der Basis einer klassizierten Release-Technik benennen und behaupten zugleich; sie sind auslegbar und verführen doch zur Anschauung statt zum Entziffern.

Tanz oszilliert zwischen Präsenz und Repräsentation, zwischen Sein und Bedeuten nicht im chronologischen Ausschlag in die eine oder andere Richtung, sondern in Form einer unmöglichen Gleichzeitigkeit. Der bewusste Umgang mit diesem strukturellen Paradox rückt Russell Maliphant in seinen präzisesten Momenten durchaus an die Seite von Jérôme Bel, der in „Xavier Le Roy“ dem gleichnamigen Kollegen freie Hand bei der Erarbeitung eines Stückes an seiner Stelle ließ, das er selbst nur mehr signierte. In der Bildenden Kunst ist das ein alter Hut – Autorschaft per Unterschrift und die Duchampsche Demonstration von Auswahl, hier des Stellvertreters, als Nullpunkt von Kunstproduktion. Im Tanz kann man damit auch 2004 noch mit verbreiteten Erwartungshaltungen und mit Auffassungen von Authentizität und Ausdruck kollidieren.

Le Roy hat eine Fingerübung in Differenz und Wiederholung ausgeklügelt. Eine komische Kunstfigur mit wasserstoffblonder Perücke latscht hinter einer schwarzen Stellwand hervor, wirft sich von Travoltas Hüftschwung bis zu Christus am Kreuz in Pose, Gang oder Geste und verschwindet wieder. Und der Eine, der hier so Viele zitiert, besteht auch wieder aus Zweien: einem Mann und einer Frau gänzlich unterschiedlicher Physiognomie, die Kleidung schlau kaschiert. Auch Tino Seghal, der nackt auf leerer Bühne berühmte Tanzstile des 20. Jahrhunderts nachtanzt, wildert, lustvoll plump zitierend, in fremden Originalitätsrevieren. Wohingegen die Forsythe-Tänzer Prue Lang, Richard Siegal und Nicole Peisl eine demonstrativ unökonomische Bewegungsproduktionsmaschine erfinden, die von der Antwort eines Zuschauers auf eine ihm gestellte Frage über mehrsprachige Wörterbücher und Schokoladenkäfer irgendwann zu Tanz führt.

Selbstverständlich ist der Blickwinkel der Autorschaft eine beliebige kuratorische Setzung. Doch „Context“ legt damit eine Spur aus, liefert ein Geländer, das durch die choreographischen Handschriften führt und räumt nebenbei ästhetische Schubladen aus. Konzeptionelle Abgeklärtheit impliziert ebenso wenig Tanzlosigkeit wie diese eine intellektuelle Qualität markiert. Und überhaupt: Was ist tanzlos?

Im „Berliner Zimmer“, dem Coaching-Projekt der Kuratorin Petra Roggel vom Brüsseler Kaaitheater, das sich zum Herzstück des Programms entwickelte, gehen die zehn Nachwuchschoreographen über solche Fragen hinweg. Das Feld hat sich wieder geweitet, nachdem alte Leitplanken wie Kunstfertigkeit in der Tanzkunst und eine vorgebliche Unschuld von Bewegung seit den neunziger Jahren von der Generation um Jérôme Bel Meter um Meter demontiert wurden. Bewegte man sich dabei am liebsten abseits der Straße, lässt es sich jetzt querfeldein über beides spazieren. Die Coachingidee bringt auf den Punkt, was „Context“ ankurbeln will: die offene Konfrontation von künstlerischen und theoretischen Ansätzen, die nicht auf bemühter ästhetischer Kategorisierung beruht. Roggels Labor überführt die flexiblen Produktionsstrukturen des Genres in das Konzept einer mobilen, temporären Akademie. Eine Woche lang wurde mit den Coaches Mårten Spångberg und Bojana Kunst sowie mit anderen zum Festival angereisten Gästen vor allem geredet, debattiert und – gefragt. Fortsetzungen des Projektes als einmalige Veranstaltung, die sich parasitär an ein Festival andockt, sind geplant. In der deutschen Ausbildungswüste im zeitgenössischen Tanz trifft diese Form der selbstständigen Aus- und Weiterbildung auf einen Bedarf, der kaum zu decken ist.

In der von Theaterwissenschafts-Studenten der Berliner Freien Universität tapfer gestalteten Festivalzeitschrift zu „Context“ zitiert Mårten Spångberg die Geschichte von einem Jungen, der jahrelang nicht spricht. Und dann, eines morgens am Frühstückstisch, sagt er: „Kannst du mir mal das Salz rüberreichen?“ „Aber du sprichst ja“, ruft die Mutter aus und der Junge erwidert: „Weißt du, die Dinge sind eben nicht mehr so perfekt.“ Deshalb schlägt „Context“ eine gute Richtung ein: Weil wenig perfekt ist und vieles fragwürdig.