ready to go turning

Der österreichische Choreograf Philipp Gehmacher gibt der Bewegung ein Bewusstsein zurück.

Theater der Zeit 1 Mar 2005German

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Was ist die Realität einer Drehung? Wie sieht der Energiekörper aus, der sich mit ihr in den Raum einschreibt oder aus ihm heraus schneidet? Ist, was idealisiert als ein rasender Stillstand denkbar wäre, in der Realität nicht eher eine in Segmente zerfallende, lineare Fortbewegung? Schließlich hängt das Gelingen der klassischen Pirouette ab von einem konkreten Fokus außerhalb, einer Blickhaltestelle, die den Körper entgegen der Fliehkraft in der Vertikalen fixiert. Nur durch das Abstoßen von und das Zurückschnellen auf diesen Punkt kann sich die Drehung ihren Schwung selbst immer von neuem geben. Allein: Der notwendige Bruch ist in die Metaphysik der Mühelosigkeit des Balletts nicht integrierbar. Er bleibt ein Trittbrett für die Illusion des Kontinuums.

In seiner Videoinstallation „killing/mourning“ (2004) fasst der österreichische Choreograf Philipp Gehmacher in der Figur der Drehung die Essenz seiner bisherigen Arbeit: Die Bewegung als eine statische Chiffre gibt es ebenso wenig wie das Perpetuum Mobile. Weder der Moment noch das Kontinuum sind als separate, absolute Zustände verfügbar. An sich ist das keine großartig neue Erkenntnis, seit Größen wie Wahrheit und Identität obsolet und zum Ort angestrengter Tiefbauarbeiten am gesamten Kulturgebäude wurden. Allerdings haben die Nachwehen der Postmoderne den Tanz stärker als das Theater erschüttert, weil er die Neukonstruktion von Sinn als selbst bewegliches Konzept dem Körper zumuten und diese Erfahrung sinnlich und zeichenhaft vor dem Zuschauer austragen muss. Und Gehmacher, Jahrgang 1975, geht anders als die meisten einflussreichen Choreografen es zur Zeit über sich bringen, über ein Denken in Dualitäten wie Statik und Fluss, Funktionalität und Abstraktion, Präsenz und Bedeutsamkeit auf produktive Weise wieder hinaus.

Eingekapselt in einen hochkant gestellten Monitor bewegt sich der Tänzer in „killing/mourning“ in langsamer Drehung um sich selbst. Doch zerfällt der Anschein von Einheit unentwegt in sich unterlaufende, verstärkende, durchdringende motorische Partikel. Plötzliche, wie reaktiv auf innere Impulse antwortende Ausschläge lenken den Torso mal in diese, mal in jene Richtung. Dabei bleibt jedes Beiseiteschieben der Hand, jedes Beben der Schulter, jeder Blick zurück oder Schritt voraus nur so lange gültig bis die nächste Impulswelle ihre Vorgängerin überzeichnet. Konkret wie Morse-Töne, für die man den Code nicht kennt, sind Gehmachers Bewegungsrudimente, real und sinnlos zugleich. Aus dem Kontinuum der Drehung machen sie eine Kette von Ereignissen: Mal zieht sich alle Energie aus den Extremitäten zurück und lässt sie wie verlassene Behausungen stehen, dann wieder eilt sie der sich abzeichnenden Geste unsichtbar, aber überdeutlich voraus.

Deutlichkeit und Lesbarkeit sind zwei verschiedene Dinge, die im Tanz, obwohl er sich so oft für sein kryptisches Wesen rechtfertigen muss, ein bisher wenig geklärtes Verhältnis unterhalten. Das wird demjenigen klar, der in der Installation mit Blicken auf dem Monitor und gleichzeitig auf dem Körper des Choreografen herumwandert. Auch Philipp Gehmachers Bühnen-Stücke sind Orte für diese Erfahrung. Man wird in die Tableaus der Beiläufigkeit hineingezogen, bis man sich wie ein Pingpong-Ball zwischen Auslösern und Effekten, dem Innehalten und seinem Überfluss in den Raum in ganz und gar nicht kausaler Abfolge hin und her geschickt findet. Wer dieser Bewegungssprache zum ersten Mal begegnet, missversteht sie aufgrund ihrer suggestiven Wucht nicht selten als ein minimalistisches Tanztheater, das vom autistisch sich selbst und der Welt entfremdeten Zeitgenossen handelt. Bei genauer Betrachtung ist, was Gehmacher seit dem Solo „in the absence“ (1999) vorangetrieben hat, aber das Gegenteil: ein Versuch, Voraussetzungen zu schaffen, unter denen Kommunikation in der Sinnmaschine der Theater-Black-Box vom Tanz neu gedacht werden kann.

Je dringlicher dieses Vorhaben, seit Gehmacher während seiner Ausbildung an der London Contemporary Dance School und dem Laban Centre zu choreografieren begann, Gestalt annahm, desto kompromissloser wurden seine Entscheidungen. Das in „in the absence“ expressive Schrittmaterial klärte sich, bis es heute nur noch aus einem sicheren Stand, dessen Verneinung im Liegen oder Sitzen sowie in Richtung, Dynamik und Sound modulierten Gängen besteht. Gleichzeitig nährten die wie Hinweise ohne konkretes „auf“ in den Raum gestellten ausmodellierten Fingerspitzen, weich geöffneten Handflächen und angespannt gereckten Arme immer stärker die Assoziation der Gestik. Durch jede dieser Haltungen scheint der ganze Körper einmal hindurch zu fließen, und daher, nicht aus einem äußeren Symbolgehalt, beziehen sie ihren Nachdruck. Im Kern, und damit hat man in Gehmachers aktuellem Projekt „incubator“ auf Anregung des Dramaturgen Peter Stamer erstmals gezielt experimentiert, bleiben diese Gesten, indem sie nichts bedeuten, anti-gestisch.

Wenn der Choreograf in Zusammenhang mit „incubator“, das in vier Arbeitsphasen in Wien, Berlin, Brüssel und Lyon bis zum Sommer fortläuft, über tänzerische Äußerung spricht, gebraucht er den englischen Begriff „pronunciation“. Der Vorgang der „Aussprache“ durchkreuzt ein Niemandsland, das der italienische Philosoph Giorgio Agamben in seiner frühen Schrift „Kindheit und Geschichte“ den „leeren Raum“ zwischen Rede und Sprache genannt hat. Denn die Aussprache markiert eine Verflüssigung von Sprache in Rede. Das starre Zeichen überzieht sie mit der lebendigen Materialität des Lautes, und die Stimme zeigt, was dem Begriff per Definition fehlt: physische Präsenz. Gleichzeitig hallt in ihr wider, was sie selbst nicht sein kann: bleibende Bedeutung. Nichts anderes als eine „Sprachschule“ war also der Vorlauf zu „incubator“ vor der Premiere in Gehmachers Stammhaus, dem Wiener Tanzquartier, Ende letzten Jahres. Den Tänzern David Subal, Clara Cornil und Sabina Holzer machte er Kernelemente seines Vokabulars zugänglich, die dann der persönlichen Anwendung überlassen blieben. In Wien stand am Ende ein fixes Stück, das den Tanz mit Lautsprecherboxen, mit Filmdialogen und getragenen Songs als gleichwertigen Objekten umgab. In Berlin folgten im HAU 2 im Januar drei in dieser Anordnung improvisierte Abende.

Schon in „mountains are mountains“ (2003) war der Körper im Verhältnis zu einem Gruppengefüge zum Thema geworden. Dieser multiple, sich das Individuum einverleibende Organismus wurde zur Feuerprobe für Philipp Gehmachers choreografisches System, das sich als ein ehrgeiziger, sich selbst anreichernder Wissensspeicher erwies. In voller Radikalität zeigt aber erst „incubator“, was es heißt, die Erkenntnisse aus der Drehung um sich selbst, die aus jedem Auftreten ein Zurücktreten von allen anderen potenziellen Schritten macht, in der Konfrontation mit anderen Entscheidungsträgern auf die Probe zu stellen. Ihre Aussprache verflüssigt, was sich in „mountains are mountains“ kaum erst zur Sprache verfestigt hatte. Gleichzeitig lässt die dünne Haut der Improvisation das rotierende Rückrat von Gehmachers Arbeit sich so deutlich abzeichnen wie nie: Es ist die Bewegung, die für sich und in sich ein Bewusstsein entwickelt.

In einem Lidschlag weitet sich der Standpunkt des Tänzers mit jedem kinetischen Impuls einmal in die dritte Dimension des Raumes, sucht und findet rückblickend seine aktuelle Position im Bezugsgeflecht und fällt dorthin zurück. Sein Zustand verortet sich. Es ist der Energieüberschuss dieser rasanten Selbstbeschleunigung, der Zugewinn an praktischem Wissen, der die Bewegung, wenn sie schließlich wieder bei sich anlangt, über ihr Ziel hinausschießen lässt. Und mit dieser Verschiebung generiert sie den nächsten Standpunkt. Es ist der Moment eines Blicks aus der Ferne auf sich selbst, der mimisch zuweilen an angestrengtes Nachdenken erinnert. Als „ready to go“ bezeichnet Philipp Gehmacher, was folgt: ein Zustand, in dem der Bewegung der Raum als Fläche von Möglichkeiten offen steht – bis sie eine ergreift.

Der großen Klarheit, mit der sich der Choreograf artikuliert, ist es zu danken, dass seine Stücke zwar zu Manifesten eines von der kommunikativen Potenz des Tanzes Überzeugten, doch nie traktathaft geraten. Ihre Komplexität teilt sich unaufdringlich und offensichtlich mit. Mit ähnlich formaler Entschiedenheit und reifen Konzepten von Raum und Zeit hat vielleicht zuletzt William Forsythe seine Umbauten am Korpus des Balletts – übrigens ebenfalls unmittelbar verbunden mit der Figur eines motorischen Bewusstseins beim Tänzer – vorangetrieben. Wie Forsythe benutzt Gehmacher die Zergliederung des Körpers als Bedeutungs- und Funktionsträger nur als Durchgang zu einer neuartigen Poetik der Sichtbarkeit, allerdings im Gegensatz zu ihm bekennend anti-virtuos.

Giorgio Agamben, die stark frequentierte Hausapotheke neuerer Tanztheorie, resümiert lax die Philosophiegeschichte, wenn er die „wesentliche Negativität des Bewusstseins“ als die in sich gekrümmte Figur bezeichnet, „immer schon das zu sein, was es noch nicht ist.“ Ob als Krümmung, Drehung oder Gang um sich selbst – genau diesen Zustand hat Philipp Gehmacher in den Körper hinein verlagert. Mit Bewusstsein ausgestattet, ist Bewegung eine niemals zu befriedigende Ambition. Aber: Das Bewusstsein kann, so Agamben, ausschließlich „im absoluten Prozess seiner Entstehung, seiner „Arbeit“, Ganzheit beanspruchen.“ Diese Bewegung als absoluten Prozess beginnt der Choreograf Gehmacher gerade erst auszukosten.