Nach langem Warten: Auftritt Körper
Wichtigste Mitwirkende der Schaubühneneröffnung ist natürlich die Schaubühne selbst. Das Haus am Kurfürstendamm war jenseits seines marmorkühlen Foyers zuletzt leicht verlottert: mit schwarzem Tuch ausgeschlagene Säle, holperige Zuschauertribünen, verwinkelte Zugänge, abgeschabte Bodenbeläge. Wer jetzt die radikal entkernten Innenräume betritt, glaubt seinen Augen nicht zu trauen. Saal und Spielfläche bieten sich entkleidet von allen Einbauten, Aufteilungen und Nischen dar: ein nackter, fast himmelstürmender Betonraum, nach Norden in eine riesige Apsis sich wölbend; davor die steilen Tribünen vom Unterboden bis in den dritten Stock. Wo war das alles zuvor bloß versteckt? Und warum? Die erste Leistung der neuen Mannschaft ist zweifellos dieser Raum-Befreiungsschlag.
Seit Wochen war mit fast hysterischer Spannung auf die Eröffnungspremiere mit dem lapidar-programmatischen Titel „Körper“ von Sasha Waltz und ihrem Tanzensemble gewartet worden. Ein gewaltiger Druck lastete auf der Ko-Direktorin der neuen Schaubühne. Andererseits war das Thema Körper seit langem festgeklopft, und monatelang konnten sich Leiterin und Ensemble in Workshops dem komplexen Thema annähern. Mit den „Dialogen“ waren erste Ergebnisse vergangenes Jahr in den Sophiensaelen, Waltz’ bisheriger künstlerischer Heimstatt, und im leeren Neubau des jüdischen Museums präsentiert worden. Vordergründiger Expressionismus wie in Waltz’ letztem Tanzstück, dem Russland-Projekt „na zemlje“, stand also offenbar nicht zu befürchten.
Vor der Schaubühnen-Apsis ragt schräg eine mächtige schwarze Wand, darin ein großzügiger Fensterausschnitt. Ein glatzköpfiger Mensch in schwarzer Kutte eilt herbei und zeigt hastig laute und kantige Bewegungen. Allmählich kommen andere Tänzer dazu; sie scheinen sich gegenseitig und den Raum niederzuringen. Dann verschwindet das Ensemble hinter die Wand, und nach und nach tauchen alle in dem Fenster wieder auf; ein einzelner Fuss zuerst, ein Kopf; langsam füllt sich das Vivarium, und die Tänzer scheinen wie von unsichtbaren Kräften gelenkt als eine Mischung aus Engel und Einzeller an der Rückwand auf und nieder zu gleiten. An Verdammnis, Höllenfahrt und Hochrelief, aber auch an Tierfilm oder Zeitrafferaufnahmen von Pflanzenwachstum denkt man – Körper als unheimlich Belebtes, als organisches Kunstwerk.
Solch suggestivem Umgang mit dem ästhetisch arbeitenden Leib gehören auch die folgenden 80 Minuten. Waltz hat eine Fülle von Bildern und Szenen aneinandergereiht, die sich mit der Angst vor Krankheit, dem Fremdsein im eigenen Körper, dem Unverwechselbaren und der Masse, der Einheit und der Vielheit beschäftigen. Eine Akteurin malt sich Preise für schönheits-chirurgische Maßnahmen oder Organ-Entnahme auf die nackte Haut. Zwei andere Opfer werden an Hautfalten, Brust und Pobacken gepackt und herumgeschleppt, ein Bild bestialischer Brutalität, dabei von äußerst harmonischem, ja geradezu zärtlichem Bewegungsfluss; fast wie eine Raubkatze beim Beutezug. Doch bleiben all diese verstörenden Bilder auch eigentümlich in sich gefangen; sie fügen sich (noch) nicht in ein choreographisches bzw. inszenatorisches Ganzes. Der Körper als Meta-Ebene der Bühnenkünste reizt seit langem die Problem-Phantasie vieler Theatertreibender – meist jedoch nur aus der Perspektive des eigenen Genres. „Am besten sind die Tänzer immer noch, wenn sie tanzen“, sagte nach der Vorstellung jemand im Publikum irritiert. Das ist nicht nur Binsenweisheit: Intelligente Thesenaufbereitung und effektsichere Illustrierung machen nämlich noch keinen Körpertheater-Abend und erst recht kein Tanzereignis. Sasha Waltz’ „Körper“ ist tatsächlich dann besonders dicht und eindringlich, wenn genuin tänzerische Ausdrucksmittel die bisweilen tiefsinnigen, aber oft allzu raunenden Passagen unterbrechen. Der programmatische Ansatz, eine neue Schauspielbühne mit einem Stück Körpertheater zu eröffnen, signalisiert ein längst überfälliges Niederreißen von Barrieren. Es steht jetzt abzuwarten, ob dieser genreübergreifende Ansatz sich auch in der Inszenierungspraxis sowohl bei Tanz wie bei Schauspiel einlösen lässt.