Mit einem fulminanten Doppel gehen die Potsdamer Tanztage zu Ende

Märkische Allgemeine 1 Jun 2000German

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Das Wetter hat auch mitgespielt. Rechtzeitig zum großen Finale der Tanztage, der so genannten Contact-Jam, zu der über 100 Teilnehmer angereist sind, verwandelte der märkische Sommer das Areal an der Schiffbauergasse zum Ferienparadies unter freiem Himmel. Dazu passte das künstlerische Hauptprogramm am Pfingstwochenende: die beiden Stücke „Tempo Valse“ (zu deutsch etwa: Schneller Walzer) und „Apnée Tango“ (Luftnot-Tango) der Schweizerischen Compagnie Nomades – Le Loft Vevey und ihres Choreografen Serge Campardon. Vor allem Walzerstück ist die Bühne technologisch aufgerüstet – die Tänzer erhalten ihre Regie- und Rhythmusanweisungen über einen kleinen Ohrhörer, ergänzen diesen lautlosen Soundtrack um elektronisch verstärkte Perkussionsstöße ihrer futuristischen Gelenkschoner gegen die Dekor-Teile und können sich gegenseitig offenbar nur sehen, nicht hören. Trotz dieser massiven Behinderungsstrategien ist die halbstündige Choreografie von unerhörtem Tempo und Genauigkeit, ein raumgreifendes Paradestück ohne große Erzählabsichten, aber dafür genial komponiert. Im zweiten Teil, dem Luftnot-Tango, geht es humorvoller zu. Das Ensemble aus je drei erstklassigen männlichen und weiblichen Tänzern bietet schönsten szenischen Bewegungsklamauk. Einer der Schar, Frank Gehrig mit Namen, leidet zum Auftakt unter extremer Luftnot. Die anderen wollen ihn daraus erlösen und ziehen als ein Schwarm choreografischer Kobolde über die Bühne und den fast Erstickenden in ihr Treiben hinein. Da wird dann der Brustkorb geknetet, der Mund massiert und die Atmung animiert. Immer weiter steigern sich die Sechs in ihren tänzerischen Luftdienst hinein, keuchen, japsen, grunzen nach einem immer rascheren Rhythmus, und wenn dann auch noch Vogelstimmen dazukommen, paaren sie sich sogar kurzzeitig zu Tangofiguren. Aber wie bei einer überdrehten Spieluhr brechen nacheinander alle Tänzer von der Antriebswelle ab (haben sie womöglich im Eifer des Gefechts alle hyperventiliert?), bis in einem wahrhaft atemberaubenden Solo der arme Gehrig allein übrig bleibt. So, ohne Unterstützung, verfällt auch er wieder in die Apneu des Anfangs.

Mit diesem bravourös getanzten und choreografisch mit allen Wassern gewaschenen Programm ging die kontrastreiche 10. Ausgabe der Potsdamer Tanztage zu Ende. Überregionaler Höhepunkt war dieses Jahr sicherlich die Anwesenheit Steve Paxtons, des Altmeisters improvisatorischer Bühnenpraxis. Seinem leicht versponnenen Vortrag über „Aspekte des Raumempfindens“ lauschte eine gebannte Anhängerschar, und als er in der kahlen und stickigen Reithalle B halb gefüllte Wasserflaschen umhertrug, um Raumpunkte zu definieren, herrschte konzentriertes Schweigen. Der Akt des Zuschauens war hier gewissermaßen in Reinform zu erleben. Nicht immer funktioniert das auch für eine „echte“ Aufführungssituation. Aber der Tanz als körperliche Kunstform ist nun mal auf eine offenherzige Vermählung von Bewegung und Betrachtung besonders angewiesen. Steht nur zu hoffen, dass derlei essenzielle Botschaft auch die Etagen der Kulturpolitik ereicht: Damit sie dort nicht einfach zusehen, wie erfolgreiche Kulturarbeit aus finanziellen Gründen bewegt den Bach ‘runtergeht.