Im Würgegriff des Rechts

Christoph Winkler lässt in “Homo Sacer” Giorgio Agamben tanzen

Frankfurter Rundschau 1 Feb 2004English

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Kafkas Parabel über den Mann vom Lande vor den Toren des Gesetzes, die offen stehen, ohne doch Einlass zu gewähren und die den einzelnen zwingen, bis an sein Lebensende auf sein Recht zu warten, spannt einen gewaltigen Horizont aus. Das gilt zumal, wenn dieses Panorama sich für ein Tanzstück entfaltet. Der Berliner Choreograph Christoph Winkler, unermüdlich in seinem Bemühen, ethische und gesellschaftliche Grundfragen in den Kontext der Bewgungskunst einzutragen, hat sich in seinem neuesten Stück “Homo Sacer” dieses monströsen Themas angenommen.

Wobei der Titel schon suggeriert, worauf Winkler eigentlich hinauswill. Ausgangspunkt seiner choreographischen Recherche ist nicht Kafka, sondern sind die Thesen Giorgio Agambens aus dessen gleichnamigem Werk über “die souveräne Macht und das nackte Leben”. Weil die aus dem antiken Recht bekannte Figur das “homo sacer”, des vollkommen rechtlosen Menschen, dessen Leben ohne Strafandrohung ausgetilgt werden darf; weil also dieser Status einer Existenz zwischen Leben und Tod so ungeheuerlich ist und eigentlich alle Rechtsnormen sprengt; und weil schließlich genau diese Figur im 20. Jahrhundert mit ungeheuer Wucht wieder aufgetaucht ist, deswegen, so argumentiert Agamben, deswegen gelte es, die hierfür notwendigen “Ausnahmezustände” darauf zu prüfen, ob nicht genau in diesem Auschluss einzelner ihre eigentliche positive Kraft liegt, ob also das Recht selbst nur gilt durch eine Aussetzung seiner eigenen Rechtskraft.

Die Frage ist bestürzend, denn sie handelt von der Politisierung des “nackten Lebens” selbst, der schieren biologischen Funktion des Leibes. Der Schritt von dieser Feststellung hin zum Tanz als einer Kulturtechnik, die eben gerade diesen Leib zu ihrem kommunikativen Ausgangspunkt nimmt, ist eigentlich nicht weit. Trotzdem ist es ein tollkühner Satz. Christoph Winkler hat ihn in “Homo Sacer”, seiner 26. Bühnenarbeit gewagt.

Im großen Saal des trendig-morbiden Berliner Spielortes “Sophiensaele” hat Alexander Schellow Boden und Rückwand weiß ausgekleidet und in die Raumecken auskragende Gebilde aus kantigen Aluminiumstreben gestellt, die sich unterschiedlich anordnen und kombinieren lassen. Eingezwängt in diese wabenartigen Türme sind Kojen aus Stoff, in denen zu Beginn die Tänzer kauern.

Dann tritt einer von hinten durch die metallische Bühnentür auf. Mit sachlichen, gleichwohl zerfurchten und irgendwie unangenehmen Bewegungen nimmt er in der Mitte des Raumes Platz. Er knickt in den Hüften ein, lässt den Oberkörper baumeln, erlaubt seinen Armen heftige Stoßbewegungen. Alles, was er tut, hat einen Nachhall. Seine Bewegung sucht und findet in allem ein Echo, eine unabsichtliche Weiterführung. Bewegung lässt sich, bei aller Präzision, niemals vollkommen beherrschen. Das macht sie in ihrer sinnlichen Qualität so besonders, aber darin liegt eben auch ihr Unbezähmbares. Der Körper, so sieht man gleich zu Beginn, birgt viel mehr, als er in seinen sichtbaren Gestalten zeigen kann. Er mag ein Objekt sein, aber er entzieht sich auch der visuellen Macht.

Nach und nach klettern die anderen sieben Tänzer aus ihren Ruhenischen hervor. Alle wirken verstört in dem gleißend erleuchteten Raum, dessen Kantigkeit dem Zerbrechlichen von Leib und Leben entgegensteht. Abrupten Impulsen folgend, brechen die Tänzer aus sich heraus, doch nur, um rasch wieder in die erstarrte Pose zurückzufallen. Die Menschen flüchten und verharren im gleichen Moment, es entsteht eine eisige Atmosphäre der Verletzlichkeit.

Es könnte die Atmosphäre eines Kriminalverfahrens sein. Eines Kriegsverbrechertribunals vielleicht. Tatsächlich lässt Winkler in einem fast naiven Dokumentar-Gestus Verhandlungsprotokolle aus dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag nachsprechen. Ein anonymer bosnischer Zeuge – “nennen wir ihn Zeuge K” (schließlich geht es um die Undurchschaubarkeit der juridischen Ordnung!) – berichtet über Massaker serbischer Soldaten, denen er selbst nur mit knapper Not entronnen ist.

Die Nüchternheit dieses Berichts, das ehrfuchtsvoll Gestellte dieser Szene, der Zusammenprall von Sachlichkeit und Grauen ist zwar inszenatorisch nicht wirklich gelungen. Es obwaltet so etwas wie Ehrfurcht vor der Monstrosität der Verbrechen, von denen berichtet wird. Aber die nachfolgende choreographische Sequenz, bei der die Tänzer mit sich selbst zu ringen scheinen, ihre Arme um den Hals schlingen, als nehme die Wahrheit sie in den Würgegriff, eine fulminante Szene, bei der sich das Ensemble zu komplexen Gebilden verhakelt und verknotet, die schon einen Augenblick später wieder auseinander gestoben sind; bei der die Energie aufschnellt gleich plötzlich aufflackernden Erinnerungen – all das steht für ein jähes Aufbäumen eben jenes “nackten Lebens”, über welches Agamben schreibt, es sei in “den Lagern” der Geschichte restlos den höhnischen Machtapparaten von Politik und Recht unterworfen worden.

Im Kreuzverhör soll “Zeuge K” dann überführt, in Widersprüche verwickelt, unglaubwürdig gemacht werden. So sieht sich das Opfer im Vollzug das Rechts selbst ein zweites Mal verhöhnt. Als völlig Entrechteter wie als sein Recht Suchender erlebt der “Mann vom Lande” doch nur den Triumph der Macht, welche ihm sein Leben und seine Wahrheit streitig machen will.

In einem tobenden, wutschnaubenden choreographischen Statement reproduzieren die Tänzer dann die scharfkantigen Konstruktionen des Bühnenbilds. Deren schneidende Ordnung, so transparent sie scheinen mag, hat sich schon längst in die Körper und die Bewegungen eingelagert. Sie führt bereits ein Eigenleben. Was die Tänzer im choreographischen Kontinuum nur flüchtig und vergänglich vermögen – sich zu komplexen Mustern arrangieren –, steht für den Kern jener Ordnung, aus der die Tänzer hervorgekrochen waren und die sie bis zum Ende nie wirklich verlassen können. “Dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe sie” sagt der Türhüter am Ende von Kafkas Parabel. Man hätte einfach hineingehen können. Aber man hat es eben nicht getan. Auch so kann die feindliche Ordnung siegen.