Contextual note
text written before the premiere given at fabrik Potsdam, after having attended rehearsals and talked to both artists.

Christoph Winkler hat vor ungefähr zehn Jahren als enfant terrible der Berliner Tanzszene angefangen. Mittlerweile ist er zu ihrem Liebling geworden. Schien sich sein Lebenslauf lange in einer fast abstrusen Vielfalt zu gefallen – Amateur-Gewichtheber, Folkloretänzer, Bodyguard und Bauarbeiter sind nur einige Stationen seiner Biographie –, gewinnt nun seine Handschrift als Choreograph zusehends Format. Winkler ist nach einem Choreographiestudium an der „Ernst Busch“-Schule für Schauspielkunst inzwischen einer der arbeitswütigsten Vertreter seiner Zunft. Klassische Ballettausbildung und postmoderne Aufführungstheorie verbinden sich zu irritierend innovativen Arbeiten, für die Winkler unkonventionelle Besetzungen zu gewinnen versteht. So sorgte jüngst die Zusammenarbeit mit Staatsopernsolistin Bettina Thiel für das Solo „FAQ“ bei den Tanztagen im Pfefferberg für Furore, weil klare Ballettsprache auf skurrile und doch sehr ernsthafte, authentisch gefärbte Bewegungsphantasie traf. Die klassische Ballerina erreichte in ihrem Solo ungeahnte Grade zeitgenössisch-lakonischer Bewegungsintensität.

Ein anderes Rechercheprojekt verfolgt Winkler seit einem guten Jahr. Für „The Wandering Problem“ hat er sich mit dem nicht minder profilierten und eigensinnigen Berliner Tänzer und Choreografen Ingo Reulecke zusammengetan. Erste Studien und Skizzen zu dieser Arbeit um eine psychiatrische Demenz-Störung, die mit Unrast, Bewegungsdrang und Orientierungslosigkeit zu tun hat, waren über die vergangenen Monate verteilt in wechselnden Konstellationen zu sehen. Nunmehr ist die Findungsphase abgeschlossen. Das Projekt kommt als abendfüllendes Solowerk heute in der Potsdamer Fabrik zu Uraufführung.

Die Grundanlage ist geblieben: Der phänomenal bewegliche Tänzerdarsteller Reulecke wird sich in langen Sequenzen mit jenem Wandertrieb innerhalb einer seßhaften Gesellschaft befassen, die neben zunehmender Lebenserwartung auch immer mehr seelische Störungen hervorbringt. Reulecke findet für derartige Zerfallserscheinungen von Leib und Bewußtsein, Körper und Verstand stets faszinierende, bisweilen auch quälende Tanzbilder. Verworren lasziv und raubtierhaft gespannt, dann wieder schlenkernd und erschlafft, plötzlich in überspannte Dehnungen, unfaßliche Verdreher und Aufschraubungen verfallend oder abrupt erstarrend, steht ihm ein Bewegungsvokabular zu Gebot, das alles Idyllische meidet, das Abgründige dabei aber mehr zitiert als bedrohlich ausagiert.

Das paßt zum beobachteten Demenz-Phänomen: Vom „Wandering Problem“ befallene Patienten sind zwar rast- und ruhelos, aber an sich nicht auffällig. Erst wenn man sie bremsen oder anhalten willen, verlieren sie die Beherrschung und werden äußerst aggressiv. Diese Versponnenheit in die eigene Unruhe als Inbild einer Gesellschaft zu verwenden, die ebenfalls ihren Ruhepunkt verloren zu haben scheint, war Reiz und Auslöser für Winklers Projekt.

Mit Videoinstallationen und wie üblich frei assoziierender Klangcollage ist „The Wandering Problem“ zudem eine Reflexion auf die Möglichkeiten des Körpers und des dazugehörigen Bewußtseins, frei und selbständig agieren zu können – gerade im Kontext einer Zusammenarbeit von Choreograph und Tänzer. Solche selbstbezüglichen Themenstellungen gehören im zeitgenössischen Tanz längst zum Standardprogramm. Faszinierend an Winkler/Reuleckes Arbeit ist aber die Unbedingtheit, mit der beide ihr Bewegungsdenken verfolgen und anschaulich zu machen wissen. Nie wird die Selbstbezüglichkeit bei ihnen zur eitlen Pose.