Das Boot zum Film vom Tanz
Ein Ozeanriese schiebt sich bedrohlich ins Bild. Steil ragt der mennigerote Bug ins Offene. An eine niedrige Mauer der Hafenmole gelehnt steht eine schwarz gekleidete Figur und schaut dem Koloss zu. Je weiter das Schiff vorbeizieht, desto schräger neigt sich die Gestalt. Als nur noch Wasserstrudel von der gelassen vorbeiziehenden Masse zeugen, richtet die Gestalt sich wieder auf. Dieser Vorgang, zerschnitten und mehrmals einmontiert, bildet die kompositorische Klammer der 1999 entstandenen Filmfassung von «Les Disparates», der zweiten gemeinsamen Choreografie von Boris Charmatz und Dimitri Chamblas aus dem Jahr 1994. Auf öffentlichem Straßenland im regnerisch-kühlen Dieppe treibt Charmatz als einziger Tänzer sein unauffällig geometrisches Unwesen: Er kundschaftet die glitschige Hafenpromenade aus, belebt eine billige Eckkneipe mit Tanz, wird auf der sturmumtobten Aussichtsplattform mit seiner orangefarbenen Steppkleidung (das Kostüm aus der Originalfassung) zum rotgelockten Knuddelbär oder sucht sich im seltsam gerasterten Bodenbelag eines verlassenen Strandbades eine Bewegungsbleibe. Immer wieder verlieren sich dabei die Häuserzeilen im regnerischen Bildhimmel, oder das Meer gibt mit dem Horizont die vollkommene Waagerechte zum aufrechten Tänzer ab. Und wenn Charmatz auf einer gigantischen stählernen Schwenkbrücke steht, die mit einem Kreisbogen die Stadtkulisse zum bewegten Panorama macht, gehen die Ambitionen des Regisseurs César Vayssié vollends auf: Szenerie, Bildschnitt und Tanz vereinigen sich zu einem koketten Hybrid. Fortlaufende choreografische Statements sind durch geschickte Schnittfolgen in mehreren Kontexten zu sehen – die Bewegungswirkung verändert sich, wirkt hart in der Werkshalle, heiter an der Strandpromenade. Und immer wieder zieht als running gag die bewegte Masse, der Ozeandampfer durchs Bild, oder die pummelige Comicfigur in Orange tobt über den Strand. Dass der Film gemeinsam mit der wieder aufgenommenen ersten Arbeit des Duos, «A bras le corps» (1993) zu sehen ist, macht deutlich, wie ernst den beiden trotz aller Humorigkeit ihre Themen sind oder zumindest waren: der Mensch als Masse, Nähe als Bedrohung, Tanz als Zumutung, Gemeinsamkeit als Ringkampf. «A bras le corps» – zu deutsch etwa feste Umarmung –, worin sich Charmatz und Chamblas als Opéra-Schüler einst ihre Prinzen-Aura vom Leibe tanzten, endet mit Bildern des Absackens, des Haltungsverlusts, zuletzt sogar mit zärtlichen Akzenten und einem ver-rückten Pietà-Bild: Während Charmatz entschlüpft, gibt Chamblas den Liegenden und arrangiert sich in anatomischer Verrenkung seitlich wie eine Brücke. Sein Körper nimmt Tragen und Lasten in sich auf, jene beiden Urformen der Architektur und des Tanzes, mit denen Aufführung und Film gleichermaßen flirten. «A Bras...» ist ein bisweilen wüstes Spiel, eine Art Ringkampf inmitten einer kleinen Arena aus Zuschauern. Im Film ist diese Konfrontation weniger direkt; Raum, Wetter und Kamera werden zu gleichberechtigten Sparringspartnern des quirligen Charmatz. Doch in der Masse des Ozeandampfers, in den raumgreifenden Aufnahmen der Schwenkbrücke, im tobenden Meer flüstert noch der frühe Befreiungstanz der beiden, zu dem zwischendurch ein Teufel Paganini geigte; im Film braucht es da nicht mehr: Hier kichert der Teufel in jedem Detail.