Krallenhände
Martin Nachbars Ausflüge in die Tanzgeschichte
„Der Tanz der neunziger Jahre begibt sich auf Spurensuche.“ So waren, ganz präsentisch und unter dem Rubrum „Rekonstruktion“, im Januar anlässlich der diesjährigen „Tanzplattform Deutschland“ in Hamburg aktuelle Programmatik und zeitgenössisches Theoriebegehren im Tanz zusammengefaßt. Kein Wunder, eigentlich, denn wenn schon das Bewahren und Erinnern am Anfang aller Kultur steht, dann ist der Tanz als flüchtigste und spurloseste aller Kulturtechniken am ehesten dem Vergessen und am schutzlosesten dem Erinnern ausgeliefert. Wohl werden im klassischen Ballett-Repertoire die kanonisierten Meisterwerke mit aller Sorgfalt gehegt und gepflegt, und auch die choreographischen Gottheiten der zweiten, der modernen Jahrhunderthälfte, von Balanchine über van Manen bis zu Kylián und Forsythe, lassen ihre Werke von wichtigen Kompanien bewahrend aufführen.
Neu ist jedoch, dass auch junge, sogenannte zeitgenössische Choreographen sich zunehmend der Geschichtlichkeit des Tanzes und der in ihm geborgenen Körperbilder widmen. Gerade die konzeptuell innovativsten Arbeiten der letzten Zeit versuchen, eigene Geschichte im Präsens des Tanzes zu vergegenwärtigen. Die Tanzfabrik Berlin hat jetzt die Reihe „Tanz und Text“ initiiert, um solche Annäherungen an die Tanzgeschichte in Form von Vorträgen, Diskussionsrunden und kurzen Aufführungen zu dokumentieren. Den Anfang machte Martin Nachbar, Jahrgang 1972 und seit einem knappen Jahr mit dem Projekt befaßt, sich Werke der großen Ausdruckstänzerin Dore Hoyer am eigenen Leibe anzueignen. Hoyer hatte 1962 fünf Tänze über die menschlichen Grundempfindungen entwickelt. 1967, kurz vor ihrem Freitod, wurden sie auf Film dokumentiert. Drei von ihnen, „Begierde“, „Haß“ und „Angst“, hat Martin Nachbar unter Anleitung der langjährigen Weggefährtin Hoyers, Waltraut Luley aus Frankfurt, erarbeitet und jetzt in der Tanzfabrik vorgestellt.
Jenseits der gegengeschlechtlichen Rollenbesetzung war vor allem spannend zu sehen, wie ein nach gängigen Release- und Flußtechniken geschulter Tänzer sich dem ungeheuren Pathos und der skulpturalen Bildstrenge in Dore Hoyers Tänzen annähert. Es sei dies, so Nachbar, eine der größten Schwierigkeiten gewesen: die Spannung, ja die Verkrampfungsästhetik des Originals in seinen auf Weichheit, Fluß und „Freiheit“ geschulten Körper aufzunehmen. Dabei funktionieren die dynamischen Grundformen – bei dem Tanz „Angst“ beispielsweise der schlotternde Gang, das Lasten und Fallen, beim „Haß“ die Krallenhände, der stark angewinkelte Hals, die Spannung zwischen der Arbeit auf halber Spitze und den wütend hackenden Armen – überraschend auch als bildnerische Elemente, die noch in der bisweilen verlustreichen Übertragung auf einen fremden Körper ungeheure Wucht entfalten. Nachbars mutiges Projekt wirft für die derzeit in Tanzzirkeln lebhaft geführte Diskussion über die Bedeutungsfähigkeit von Körper und Bewegung einige ernsthafte Fragen auf. Dore Hoyer hat aufgrund kulturell erinnerter Bildlichkeit des Körpers Bewegungsfiguren gefunden, die gleichsam „für sich selbst“ sprechen sollten; wenn diese sich noch heute an einem fremden Körper mitzuteilen vermögen, muß also die Rede von der rein sozialen Bedingtheit körperlicher Bedeutungen zumindest relativiert werden – für radikale Recherchen der kommenden Jahre wohl keine folgenlose Erkenntnis.Die Reihe wird fortgesetzt mit Rekonstruktionsprojekten zu Mary Wigman und Harald Kreutzberg (15. 10.) sowie Valeska Gert (22. 10.); Tanzfabrik Berlin, Möckernstr. 68, Kreuzberg.