Weg damit!
Positionen des Verschwindens beim Festival «Körperstimmen No. 5» im Podewil
Der Bühnenkünstler, so seufzte in den 1960er Jahren Frankreichs ungeliebter Schauspiel-Guru Etienne Decroux, kann seinen Körper leider nicht zu Pigmentpulver zermahlen. So ist er stets gezwungen, statt als Ich-loses Gemälde leibhaftig als er selbst auf der Bühne zu stehen. Decroux wusste indessen nicht, was die Performancekunst gut 30 Jahre später dem würde erwidern können. Landsmann Vincent Dunoyer nämlich, Jahrgang 1962, hat in seiner 30-minütigen Etüde «Vanity» dies Thema für sich entdeckt und einer ebenso simplen wie verblüffenden Lösung zugeführt: Er lässt seine matten Tanzbewegungen von einer Videokamera aufzeichnen, mit der er zuvor in lasziver Langsamkeit Austausch pflegte, und spielt diese Nahsicht seiner selbst dann dem Publikum ein zweites Mal vor. Aufgelöst in digitale Farbraster wirkt so erstens seine Haut viel sonnengebräunter als im fahlen Rampenlicht der Bühne. Und zweitens weiß man als Betrachter schon bald nicht mehr, ob denn diese Bilder tatsächlich das soeben Gesehene zeigen oder ob sie noch früher aufgezeichnet wurden. Trug Dunoyer vorhin auch diese Zehenpflaster? Ist der leichte Faltenwurf am rückwärtigen Projektionsschirm identisch mit dem Original? Wo lagen denn die Requisiten? Die Frage bleibt unentscheidbar, und der Mythos um die Leibhaftigkeit des Tanzes ist gehörig angekratzt.
Auch Franz Kafka misstraute der fleischlichen Leibes-Hülle; in der "Verwandlung" imaginierte er sich schaudernd als grässliches Insekt. Der aufstrebende Choreograf und ehemalige Schauspieler Ruby Edelman bringt aus den Niederlanden zwar keine Kafka-Adaption, wohl aber eine Reflexion über Mensch und Schabe mit ins Podewil. In seinem Stück «Line 300» sind drei Figuren in einer Art grell ausgeleuchteter geschlossener Anstalt vereint. Selbstmord, Schlägerei und sonstige verstörende Verhaltensweisen sind an der Tagesordnung. So hegt und pflegt einer der Insassen (übrigens der Choreograf selbst) hingebungsvoll seine Kakerlaken-Sammlung in Marmeladegläsern. Wenn die andern zwei sich prügeln, liebkost er seine kleinen Lieblinge; und ehe er sich zuletzt hinter einem Stoffparavent erhängt, schenkt er noch einem riesigen Exemplar seiner Sammlung die Freiheit: Es krabbelt seltsam somnambul am weißen Stoff empor – ein makabres Bild für das Ende aller Körperfeiern und Tanzutopien. Natürlich ist der Ekel-Effekt genau kalkuliert; im Publikum ist nervöses Kichern zu hören, und nach der Vorstellung breitet sich Unruhe aus, ob man das Gliedertier auch wieder würde einfangen können. Dass die Mensch-Ungeziefer-Assoziation durchaus fragwürdige Untertöne hat, schien niemanden zu stören.