Geöffnete Mythen-Türen
Mats Eks „Dornröschen“ bei den Theaterwelten
Dornröschen könnte niemals deutsche Fußball-Nationaltrainerin werden. Dafür hätte Robert de Niro vielleicht das Zeug zum Ballettänzer. Solche Einsichten sind zu gewinnen, wenn der schwedische Choreograph Mats Ek die Inkunabeln des klassischen Ballett gegen den Strich bürstet. Seine politisch engagierten Tanzabende sind seit langem legendär. Ob Apartheid, Unterdrückung der Frau oder sexuelle Gewalt – Mats Ek bringt’s auf die Bühne. Seine „Giselle“ von 1982 ließ er in einer psychiatrischen Anstalt spielen; und sein „Dornröschen“, 1996 für das Ballett Hamburg entstanden und im Jahr darauf ins Repertoire des Stockholmer Cullberg Ballett übernommen (dem Ek 1985 bis 1993 vorstand), verlegte er ins Drogenmilieu. Die Protagonistin schläft jetzt nicht 100 Jahre hinter einer Dornenhecke, um vom Prinzen Désiré wachgeküßt und in die glückliche Ehe geführt zu werden. Vielmehr ist sie rebellisch und widerborstig, hat mit ihren Eltern gebrochen und sich auf eine zerstörerische Beziehung mit einem charismatischen Drogenhändler eingelassen – im Libretto der Uraufführung von 1890 die böse Fee Carabosse, welche das gute Kind Dornröschen während der Taufe zum Tod durch die Spindel, d. h. die Nadel, verflucht.
In der säkularen Neunziger-Jahre-Version kommt sie als furchterregender Entbindungsarzt in den Kreißsaal zu Mutter Silvia (!), Königin des Tschaikowski/Petipaschen Märchenlandes. Das Böse, die Krankheit Droge – in diesen bewegten Fußballtagen wissen wir, zu welcher Metaphorik der Drogenkonsum hohe und höchste Sportfunktionäre beflügelt – ist dem Mädchen also schon in die Wiege gelegt, gleichsam als soziale Prädisposition. An ihrem sechzehnten Geburtstag beginnt dann ihr Delirium, ihr Abstieg auf der schiefen Bahn. Daran können auch die vier rassigen Guten Feen nichts ändern, die sich in ihren fulminanten Kostümen irgendwo zwischen Hebamme, Putzfrauengeschwader und Laufstegkatze ansiedeln. Sie finden Dornröschen nach der Pause in der Gosse liegen, und nun endlich platzt dem Prinzen Désiré der Kragen: Tobsüchtig kommt er aus dem Parkett auf die Bühne gerast, um dem Unwesen dort ein Ende zu setzen. Wie Robert de Niro als Racheengel in „Taxi Driver“ streckt er den Verderber Carabosse mit zwei Handfeuerwaffen nieder und glaubt, Dornröschen wieder auf den rechten Pfad gebracht zu haben.
Der anschließende Brautzug soll dann stattfinden hin zur Tür im Proszenium, die leicht als Eks „Tür zum Mythos“ identifizierbar ist: „Das Märchen gleicht einem idyllischen Häuschen, an dessen Tür jedoch geschrieben steht: ‘Achtung, Minen!’ ... eine mythische Tür, die man öffnen muß“, so der Choreograph im Programmheft. Und so nimmt er auch im vorliegenden Konflikt zwischen Familienfrieden und Drogenszene den traditionellen Stoff gehörig auseinander. Doch soviel Bewegungswitz und Erzählsplitter Mats Ek in seiner Begeisterung auch auftürmt – und es ist wie im Cartoon oft mehr, als der gute Geschmack erlauben würde –, so treu bleibt er dem hehren Vorbild. Nie verrät er das klassische Erbe, auch wenn keine Spitzenschuhe zur Anwendung kommen und die virtuosen Höhepunkte namentlich der Männer auf die Freudensprünge vor ihren schwangeren Frauen beschränkt bleiben. Es gilt eben die antiklassische Devise von Kurt Jooss (Lehrer Pina Bauschs und Vorbild Birgit Cullbergs, Mutter des Choreographen und Gründerin der Gastspieltruppe Cullberg Balleten): keine ornamentalen Schritte, alles im Dienste der Handlung und Erzählung!
Die neigt sich allerdings gegen Ende dem Groschenroman zu: Weil Dornröschen eine Frau mit Vergangenheit ist, bringt sie nach ihrer Entziehungskur ein zwielichtiges Kind zur Welt, das Prinz Désiré, der moralische Berserker, nicht als seines anerkennen will; er ergreift die Flucht und läßt seine im Kindbett röchelnde Frau zurück, besinnt sich dann jedoch eines besseren und schließt das Kind gerührt in die Arme. Nur ob Dornröschen selbst ihren Schritt von der schiefen Bahn zurück aufs bürgerliche Glücksgleis überlebt hat, bleibt bei diesem Ende offen.
Das Publikum im Schiller Theater sieht’s und staunt zunächst, jubelt dann aber mit desto größerer Begeisterung. Vor allem Vanessa de Lignière in der gepeinigten Titelrolle und Gunilla Hammar als hilflos-unglückliche Mutter geben ihren Figuren bei aller tänzerischen Anforderung ungemein dichtes psychologisches Profil. Rafi Sadi in der Rolle der/des Carabosse brilliert als rassiger Ganove und armes Würstchen in einem, während die Vier Feen Talia Paz, Johanna Lindh, Yamit Kalef sowie Julie Guibert deutlich machen, wie sexy Ballett sein kann. Den Prinzen gab Eytan Sivak als leicht täppischen, aber liebenswürdigen Kerl, dessen theatralisches Talent man umgekehrt proportional Robert de Niro im Tanzbereich wünschen möchte. Glückliches Schweden, das es sich leisten kann und will, solche Projekte um die Welt zu schicken!