Kult und Trash, klassisch

Eine neue alte "Cinderella"

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Berlin 1 Mar 2000German

item doc

Die Deutsche Oper war einmal sehr reich. Damals legte sie sich einen Hausschatz an, von dem sie heute zehrt. So tischte man unlängst den opulenten „Ring“ aus den Achtzigern wieder auf, und auch die unverwüstliche „Carmen“ aus den siebziger Jahren rumpelt weiterhin über die Bühne. Das Ballett besinnt sich ebenfalls seiner abgelegten Preziosen. Die einst 60-köpfige Tänzerschar ist auf mittlerweile 30 Mitglieder geschrumpft. Für neue, große Choreografien fehlt es daher nicht nur am Geld, sondern auch an Tänzern. Also hat Sylviane Bayard, seit Beginn der Spielzeit tapfere Ballettdirektorin auf Abruf, ihrerseits im schlummernden Repertoire gestöbert und vorerst kein Dornröschen, wohl aber ein Aschenputtel gefunden.

1977 war nach medienwirksamen Querelen der russische Startänzer und -choreograf Valery Panov offiziell aus der Sowjetunion in den Westen ausgereist. Der damalige Ballettchef der Bismarck-Oper, Gert Reinholm, griff sofort zu und gewann den Emigranten noch im gleichen Jahr für eine glänzende Inszenierung von Prokofjews 1945 uraufgeführtem Ballett-Meisterwerk „Cinderella“. Die Produktion stand bis 1993 auf dem Spielplan. Ersetzt wurde sie 1998 durch eine ungeliebte Zeitgeist-Adaption (Aschenbrödel ist Putzfrau in einer Modefirma und wird von einem Couturier als Model entdeckt), die nun ihrerseits in den Fundus verfrachtet wurde.

Eine über 20 Jahre alte Inszenierung hat natürlich etwas Museales und verstaubt Nostalgisches. Es ist, als blättere man in einem alten Kinderbuch: die typischen 70er-Jahre-Schwellformen, die seltsam ermatteten Farben von Bauten und Kostümen, das sonderbar Zopfige ist nicht mehr von dieser Zeit. Tänzerisch dagegen und inszenatorisch funktioniert die wieder aufgenommene Fassung bestens: Die böse Stiefmutter (Tomas Karlborg auf schwankender Spitze) samt ihrer beiden Gören geben ein klamaukiges Trio infernal, das seine täppischen Tanzschritte mit aller Grazie des Clowns auf dem Hochseil beherrscht. Can Arslan und Goyo Montero brillieren als Tanzmeister und Chef-Schuster in Demi-caractère-Partien, das reduzierte Corps de ballet kämpft sich wacker, wenn auch manchmal strauchelnd durch Divertissements und große Aufzüge. Nur das Hohe Paar enttäuscht: Christine Camillo als verhärmte Cinderella ist zwar in Attacke und Fußarbeit präzise und technisch souverän, bleibt aber besonders in den lyrischen Partien glanzlos. Und Alexej Dubinins Prinz geht vor allem im letzten Aufzug die Puste aus. Der Schluss-Pas de deux ist dadurch glatt verschenkt. Für die Feen-Szenen wiederum haben alle Ballettschulen der Stadt ihre Jüngsten geschickt: Jahreszeiten-Ballett, Zug der Grashüpfer und Libellen, das Heer der Stundenzwerge und die Orangenträger – hier wird die Siebziger-Jahre-Ästhetik vollends Kult. Michael Heise, der bereits die Premiere vor 23 Jahren dirigierte, lässt das Orchester Prokofjews klangsatte und rhythmisch rasante Partitur gehörig auskosten. Dabei folgt er den Tänzern sensibel. So gerät diese Wiederaufnahme zu einem Achtungserfolg. Zukunftsweisend ist sie freilich nicht.

Das soll sich ändern: Noch in diesem Jahr werden auch für die Deutsche Oper Entscheidungen bezüglich des BerlinBallett erwartet. Wie fast alle anderen Akteure zuckt auch Sylviane Bayard bei diesem Thema bedeutungsvoll mit den Schultern. „Wir wissen noch nicht, was das für uns bedeuten wird“, sagt sie. „Die Company wünscht sich mehr Information.“ Und nicht nur sie. Stellenabbau und proklamatorische Äußerungen aus allen Richtungen gab es reichlich. Über künstlerisches Profil und Antlitz eines organisatorisch gebündelten Großballetts dagegen herrscht weiterhin Rätselraten. Die neue Kultursenatorin spricht kaum klarer als ihr Vorgänger von „bestimmten Synergieeffekten“ und vom „Versuch, eine möglichst bedeutende Leistung im Tanz für Berlin auch über ein Berlin-Ballett anzuregen“, und Gerhard Brunner, Ballettbeauftragter des Berliner Senats und sicher einer der heißesten Kandidaten für die Leitungsposition des BerlinBallett, ließ schon im vergangenen Sommer wissen, er sehe seine Funktion darin, „den Reifen hochzuhalten, durch den die Künstler springen müssen.“

Jenseits solch zirzensischer Metaphern aber herrscht ein signifikanter Mangel an Leitbildern. So führt das Tanztheater der Komischen Oper mittlerweile „BerlinBallett“ im Namen und hat mit Richard Wherlock einen dem Deftigen verpflichteten Hauschoreografen. Im Gezerre um den Verbleib Daniel Barenboims an der Staatsoper ist der Status der dortigen Tanzabteilung gar zum symbolischen Zankapfel geworden – was des Ballettes künstlerischem Rang nicht förderlich ist. Die Deutsche Oper hält sich unterdessen zurück. Man ist dort im Gespräch mit Gerhard Brunner, der bei künstlerischen Richtungsentscheidungen berät, und offiziell hat man sich zu „kooperativem Verhalten“ verpflichtet. „Ich will die Company in einem guten Zustand übergeben, wenn es soweit ist“, sagt Frau Bayard. Ob sie dabei trotzig, mutig oder resigniert wirkt, ist nicht zu entscheiden. Künstlerisch jedoch hat sie mit den Tänzern solide Arbeit geleistet. Das Ensemble braucht niemanden zu scheuen. Schon gar nicht das BerlinBallett.