Reviving History

"Im (Goldenen) Schnitt" reconstructed

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Berlin 1 Oct 1999German

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1936 war nicht nur das Jahr, in dem Gerhard Bohner zur Welt kam. 1936 war auch das Jahr des Sündenfalls der deutschen Tanzszene. Durch die hochgestimmte Mitwirkung zahlreicher prominenter Vertreter – darunter Mary Wigman und Rudolf von Laban – am Eröffnungsspektakel der Olympischen Sommerspiele in Berlin, dieser propagandistischen Ruhmesfeier des Dritten Reiches, war die später viel beschworene politische und künstlerische Unschuld verloren. An Tanz und Tänzern blieb ein Makel haften. Und weil die seit 1933 offiziell geförderte Tanzästhetik mit ihrer hohlen Pathetik, dem schlüpfrig-völkischen Körperkult und aseptischen Gefühlsheroismus nach 1945 ohnehin endgültig zur Peinlichkeit geworden war, präsentierten sich die fünfziger Jahre in Sachen Tanz als eine Zeit klassizistischen Biedersinns – Tanz fand im Opernballett statt und blieb ästhetisch harmlos.

 

So mußte es historisch unbelasteten Figuren vorbehalten bleiben, dem Tanz in Deutschland eine neue künstlerische Richtung zu weisen. Gerhard Bohner war eine solche Figur. 1961 trat er ins Ballettensemble der Deutschen Oper Berlin unter Tatjana Gsovsky ein. 1964 stieg er zum Solisten auf. Seine hagere Gestalt und sein ingrimmiger, grüblerischer Charakter machten Bohner aber zu einer Art Enfant terrible, das man ob seiner Begabung zur Dämonie bevorzugt auf die Schurkenrollen besetzte: Rotbart, Carabosse, Rasputin oder auch die Schlange in Macmillans "Kain und Abel".

Schon bald bot ihm das klassische Ballett keine Heimstatt mehr. Bohner suchte nach Anderem und begann zu choreographieren – mit Erfolg. Rasch stieg er in die kleine Riege bedeutender Tanz-Persönlichkeiten der alten Bundesrepublik auf, 1972 erhielt er für das gewagte Stück "Die Folterungen der Beatrice Cenci" den Deutschen Kritikerpreis. Bohner war es auch, der die in den Wirren der deutschen Geschichte verirrten tanzästhetischen Strömungen zusammenführte: leidenschaftliche Expressivität des Ausdruckstanzes und analytische Strenge des Bauhaus. Mit seiner legendären Rekonstruktion des "Triadischen Ballett" von Oskar Schlemmer, 1977 in Zusammenarbeit mit Dirk Scheper an der Berliner Akademie der Künste herausgebracht, führte Bohner einem breiten, auch internationalen Publikum vor, welche Maßstäbe das Bauhaus für die Bühne der Moderne eigentlich gesetzt hatte. Bohner war zwar ästhetisch radikal, als tanzender Stachel im Fleisch der Gesellschaft taugte er aber – anders als etwa Hans Kresnik oder Pina Bausch – nicht. Seine Zeit als Leiter des Tanztheaters in Darmstadt 1972 bis 1975 und auch 1978 bis 1981 in Bremen blieb glücklos. Das Stadttheater bot Bohner kein geeignetes Forum. Vielmehr bedurfte es anderer Resonanzen.

Die fand er immer wieder in der Berliner Akademie der Künste, die sich seit ihrem Festival der Internationalen Pantomime im Januar 1962 verstärkt um jene vernachlässigten Bühnenkünste bemühte, die abseits des Sprech- und Musiktheaters angesiedelt sind. Ab 1973 bis in die Wendezeit fand parallel zum Theatertreffen die Veranstaltungsreihe "Pantomime, Musik, Tanz, Theater" statt. Nele Hertling, damals Akademiesekretär der Abteilung Musik und heute Intendantin des Hebbel-Theaters, und Dirk Scheper, seit 1970 Sekretär der Abteilung Darstellende Kunst, haben hier jahrelang Pionierarbeit zur Förderung der körperzentrierten Bühnenkünste geleistet. Davon konnte auch Gerhard Bohner profitieren, dessen letzte Arbeiten "Im (Goldenen) Schnitt" (1989), "Angst und Geometrie" (1990) sowie "SOS" (1991) durch die Akademie bzw. das Hebbel-Theater ermöglicht wurden.

Doch nach Bohners frühem Tod 1992 drohte seine dreiteilige Arbeit "Im (Goldenen) Schnitt" verloren zu gehen, wahrscheinlich Bohners opus summum, in dem er klare, bauhausgeschulte Analytik mit tänzerisch gelebter Geste verbindet, Formkritik und Subjektivität, Ichbefragung und Geistesklarheit verschmelzen läßt. In 24 Abteilungen – entsprechend den ersten 12 Präludien und Fugen des "Wohltemperierten Klaviers" – wird der verräumlichte Körper als Instrument der Formgebung und Träger des Ausdrucks, als Zeichenmaterial und Sinnfülle, als Skelett und Gefühlswesen untersucht. Somit ist "Im (Goldenen) Schnitt" gleichsam eine Bilanz der großen Linien innerhalb der Tanzentwickung dieses Jahrhunderts. Um dieses Schlüsselwerk lebendig zu bewahren, wagte sich die Akademie gemeinsam mit der katalanischen Tanzkompanie Gelabert-Azzopardi und deren choreographischem Leiter Cesc Gelabert auf unbekanntes Terrain vor: die Rekonstruktion von "Im (Goldenen) Schnitt I". 1996 war die neue Version erstmals zu sehen. Seither ist sie mit großem Erfolg in aller Welt auf Tournee gewesen, zuletzt in Japan. Diese Rekonstruktion sei eine seiner beglückendsten Tanzproduktionen, sagt Gelabert; überall sei man von Bohners Formenklarheit begeistert und attestiere Gelabert interpretatorische Sauberkeit. Die jenseits aller Moden angesiedelte Modernität von Bohners Werk sei offenbar von geradezu universellem Rang. Nun, zehn Jahre nach der Uraufführung, haben sich Gelabert und die Akademie der zweiten Version von "Im (Goldenen) Schnitt" angenommen. Sie verwendet dasselbe Bewegungsmaterial, aber mit anderen Abläufen und in anderem Bühnenbild. Neben diesen Nachschöpfungen – Gelabert spricht bewußt von "Interpretation", wie bei einem Musikstück – gibt es im Rahmen der Bohner-Retrospektive überdies die Wiederaufnahme von dessen allerletzter, kurz vor seinem Tode für die Tanzcompagnie Rubato entstandener Choreographie "SOS" im Rangfoyer des Hebbel-Theater zu sehen.

Wenn mit Gerhard Bohner eines der bedeutendsten, aber auch eigenbrödlerischsten Tanzkünstler der deutschen Nachkriegszeit gedacht wird, darf man das durchaus zum Anlaß nehmen, auf die Verdienste der (West-) Berliner Akademie der Künste hinzuweisen: Sie hat dem freien Tanz gegen alle Widerstände einen Platz im Kulturbetrieb erkämpft und viele Projekte von Bohner und anderen überhaupt erst ermöglicht. Mit der ihr angemessenen Bescheidenheit würde sich die Angesprochene gegen solches Lob wohl strikt verwahren. Verdient hätte sie es um so mehr.