Den Stöckel im Nacken

Die Cie. Toula Limnaios tanzt in „ysteres“ zum Thema Hysterie

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Berlin 1 Jun 2000German

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Der zeitgenössische Tanz, so ist bisweilen zu hören, habe sich zu sehr in seine eigenen Parameter verliebt, verharre in formalen Selbstbefragungen und sei mittlerweile eher Konzept- denn Bewegungskunst geworden. Das kann, je nachdem, wer die Diagnose stellt, sowohl Vorwurf wie Lob bedeuten. Fest steht jedoch, dass Tanz zu einer zeitnahen Ausdrucksform, zu einem Medium der (gesellschaftlichen) Reflexion geworden ist. Für beides – formale wie inhaltlich ausgerichtete tänzerische Recherche – steht die 1995 in Brüssel gegründete und seit 1997 in Berlin ansässige Tanzcompagnie Toula Limnaios. Neben der namensgebenen griechischen Choreografin gehören zum Kernteam noch Komponist Ralf R. Ollertz und Lichtdesigner Marco Ferri. Seit 1999 arbeitet auch die Videogruppe cyan an der visuellen Ausstattung der Produktionen mit. Nicht zu vergessen das tänzerische Personal: Für die aktuelle Neuproduktion „ysteres“, die jetzt im Theater am Halleschen Ufer Premiere hatte, sind es die Tänzerinnen Monica Muñoz Marin und Evelin Stadler. Thematischen Mittelpunkt von „ysteres“ bildet ein Schlüsselthema der Moderne: die Hysterie. Orientiert an der berühmten, bis etwa 1880 vom Psychiater Jean-Martin Charcot in Paris zusammengetragenen Photo-Dokumentation des hysterischen Krankheitsbildes, sucht die Cie. Toula Limnaios nach szenischen Umsetzungsformen für die fast clowneske Verlorenheit, aber auch die kinetische und affektive Wucht der vielleicht rätselhaftesten psychopathologischen Erscheinung des 19. Jahrhunderts.

Rasant geschnittene, aggressive Videoeinspielungen zeigen zunächst farbenfrohe Bildschirmschoner-Bällchen, dann Plastikmasken und -fratzen sowie Ballerina-Barbies und ähnlich billige Bildsäulensurrogate. Gegen diese Künstlichkeit der Plastikwelt und des Erstarrten setzen die beiden Tänzerinnen ihr Arsenal zwanghafter, entfremdeter und „wahnsinniger“ Bewegungen. Sie wechseln von Autoaggression zu kindlicher Selbstbetastung, sind rasend-getrieben oder beschaulich-sinnierend, versunken oder gehetzt. Meist nehmen sie sich gegenseitig dabei gar nicht wahr. Auf die Bühne gekommen waren sie in erschöpft gebückter Haltung, in eigenartig schlabbrigen, fleischfarbenen Bodies mit Körbchenübergröße, und als Zeichen der verdrängten seelischen Traumatisierung saß ihnen ein Stöckelschuh im Nacken.

Nach ihrem klinischen Dialog mit derartigen Bild-Symptomen stehen Muñoz und Stadler gebeugten Hauptes da. Eine Stimme spricht: „Die einzige Spur von Leben – eine Gestalt.“ Deutlicher lässt sich der unbedingte Wille zur Bedeutung kaum formulieren. Trotzdem besteht die Kraft von „ysteres“ weniger in solch diskursiver Schwängerung, sondern in der hybriden Überlagerung von Videobild, Klangkulisse, Tanz und Ikonographie. Wie auch das erste Stück des Abends, die Wiederaufnahme von Limnaios’ Solos „vertige“ (Uraufführung war im Februar dieses Jahres), steht das Stück für beides: formale Recherche und beherzten Tiefgang. „ysteres“ hat allerdings das glücklichere Mischungsverhältnis gefunden.