Zum Steinerweichen
Susanne Kirchners unnachahmliche Tanzskulpturen
Umgekehrt aber, so sinnierte einst der französische Aufklärer Diderot, müßte doch auch dem Marmor möglich werden können, Teil der empfindenden Materie zu sein, indem man ihn zermahlen ins Gemüsebeet gibt, wo er Teil der Pflanze würde, die wir dann verspeisen, um den Marmor also ins Leben zu holen. Sozusagen eine naturwissenschaftliche, ganz und gar unerotische Art der Metamorphose.
Doch die Geschichte hat gezeigt, daß die Verbindung aus erhabener Form und lebendigem Organismus letztlich nicht zu haben ist. Die Trennung zwischen starrer, kalter Schönheit hier und bewegten, vergänglichen Körpern dort blieb offenbar unüberwindbar. Bis Susanne Kirchner kam.
Die Berliner Künstlerin, 1963 geboren, studierte zunächst klassischen Gesang. Seit 1990 hat sie an der Entwicklung einer ganz eigenartigen Bewegungslehre gearbeitet, der "Tanzskulptur", mit der sie sich mittlerweile überregional einen Namen gemacht hat. Kein Wunder, denn was sie zeigt, ist wahrhaft ungesehen. In Anlehnung an Yoga- und Sensibilisierungs-Techniken hat sie für ihren Körper eine Beweglichkeit gefunden, die an die Grenzen des Nachvollziehbaren und auch des Sichtbaren geht. Kirchner arbeitet mit der Verblüffung, ja dem Erschrecken. Wenn ihr Körper seine Kontur verliert durch alle Arten von Torsionen, Streckungen, Spagat, Verdrehung und Verbiegung, dann ist man fasziniert, ungläubig und auch fassungslos, wie weit die Anatomie ausgesetzt werden kann. In dramatisch-zeitlupenhafter Dynamik verwandelt sie sich, durchläuft Gestalt-Metamorphosen wie eine Statue, die in Jahrhunderten der Verwitterung allmählich zerfällt und sich neu konfiguriert. Diese Mischung aus Zeitlupe und Zeitraffer-Verfahren ist es vor allem, mit denen Kirchner die Vergänglichkeit des Tanzes und die dauerhafte Wirkung des kairos verbindet, jenen dynamischen, vollkommenen Moment der antiken Ästhetik, in dem die widerstreitenden Kräfte Starre/Bewegung, Schwere/Leichtigkeit, hochfahrend/niedergedrückt in beredtem Ausgleich Frieden schließen. Daher hat ihre Kunst auch nichts Zirkushaftes. Sie ist kein effektverliebter Schlangenmensch, sondern eine am antiken Gestaltideal orientierte, meditative Künstlerin. In einem Interview erläutert sie, ihr Interesse gelte vor allem dem, was man ohne Zufügungen darstellerisch leisten kann. Wenn man ohne Text, Libretto, Klang, Bühne etc. auskommen will, womit kann man sich dann ausdrücken? Es bleiben, so Kirchner, Stimme (Gesang) oder Leib (Bewegung).
Wer aber mit der Gestalt aus Fleisch und Blut allein und ausschließlich arbeiten will, der hat eben das gesamte abendländische Repertoire an Körperbildern zur Inspiration. Daher bevorzugt Kirchner Auftritte in Museen, in Glyptotheken und Abgußsammlungen antiker Plastik. Aber auch die moderne und zeitgenössische Skultpur hält einiges parat: Abstraktion, reine Form, Austarierung von Kraft und Gegenkraft, immer an der Grenze zwischen Reglosigkeit und Belebung.
Zu zwei Gelegenheiten wird die Tanz-Bildhauerin Susanne Kirchner während der Musikfestspiele mitwirken: Einmal während der "Klangwege im Park Sanssouci" (12. Juni), bei denen die Gartenwelt multimedial zum esoterischen Gesamtkunstwerk umgerüstet werden soll, dann nochmals anläßlich eines passend "Metamorphosen und Tanz" betitelten Konzertabends im Apollosaal der Staatsoper Unter den Linden in Berlin (23. Juni). Im Gegensatz zu Museen und musealen Kontexten, in denen Kirchner bevorzugt arbeitet, wird den "Tanzskulpturen" hier ein szenischer und musikalischer Rahmen gesetzt. Ihre bewegte Körper-Bildhauerei tritt in Zwiesprache mit dem Kanon der Künste. Und so trifft sich Kirchners Programm vielleicht sogar entfernt mit dem Verlangen, daß einst zu Knobelsdorffs Zeiten in Potsdam wirkte: die Lust an der Verwandlung; wenn schon nicht am eigenen Leibe, so doch in der ästhetischen Ausgestaltung der märkischen Kargheit zu einem Landschaftskunstwerk, durch den der Atem der Antike wehen sollte, zum trostreichen Musenparadies im Sand, zum Ort des stillen Erstaunens.