Tanz im Konjunktiv

Thomas Lehmens Solo "Distanzlos"

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Berlin 1 Apr 1999German

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Zweimal pro Jahr richtet die "Zentrale Spielstätte für die freie Szene Berlins", auch bekannt als Theater am Halleschen Ufer, die TanzZeit aus, eines der mittlerweile zahlreichen Berliner Podien, deren Programm verfolgen muß, wer wissen will, wohin die Karawane des Tanzes gerade zieht.

Auf dem Programm stehen auch wichtige Wiederbegegnungen: So wird der frischgebackene 3. Preisträger des Deutschen Produzentenpreises für Choreographie, Jo Fabian, seine choreologische Arbeit "Blown Away" nochmals zeigen und mit "die anderen und die gleichen" die erste Gruppenarbeit der eigensinnigen Schweizer Choreographin Anna Huber wieder ins Programm genommen.

Erste Uraufführung bei TanzZeit 2/99 war "Distanzlos", die vierte Soloarbeit von Thomas Lehmen. Dessen künstlerische Biographie hat's in sich: Geboren in Oberhausen, kam er von der Rockmusik über die Maloche bei Krupp an die renommierte School for New Dance Development in Amsterdam, avancierte erst zum Gruppentänzer (u. a. bei Sasha Waltz & Guests), dann zum Solisten, dessen drei furiose Stücke "extended version", "friendly fire" und "No Fear" von 1997/98 ihm sogleich Stipendien des Goethe-Instituts und einen Gasthaufenthalt am mondänen Bergen International Theatre einbrachten, Norwegens Avantgarde-Bühne, wo er "Distanzlos" erarbeitete. Ein Höhenflug also, und damit verbunden die Aufforderung zum Tanz. Lehmen kommt ihr in "Distanzlos" auf verblüffende Weise nach: Er setzt sich in Anführungsstriche. All die Ideen und Einfälle, die er hätte zum Tanzthema machen mögen, aber nicht hat machen können, werden aus seinem Proben-Notizbuch vorgetragen und nur einige auch angespielt.

Zum Beispiel das Mikrophon als körperliche Abtastnadel: Lehmen fährt sich mit damit krachend über's zerknitterte Schlafanzugoberteil, schnurrend über die glatte Haut des Unterarms, stößt es sich selbst dumpf vor den Kopf und steckt es schließlich in den Mund, um, wie angekündigt, "Keuchen, Schluchzen, Kichern" über die Lautsprecher auszusenden. Ohne bewegungsästhetischen Ballast kommt der Körper selbst zur Sprache. Im zeitgenössischen Tanz soll der sowieso nicht mehr Ort des Wahren und Schönen, sondern des Unmittelbaren sein, ohne ästhetische Überhöhung, allenfalls sinnlich verstärkt. Wirkung ja, Willen nein heißt die Parole. Darum wohl auch der Hinweis auf's Tourette-Syndrom, jene Peinlichkeits-Krankheit, bei der der Patient unwillkürlich obszöne Wörter oder zumindest unmotivierte Schreie ausstoßen muß, begleitet von heftigen Zuckungen. Soweit kommt es aber nicht an diesem Abend, dessen mögliches Thema immerhin auch lautete: "Den Nullpunkt zeigen, ohne der Nullpunkt zu sein." Treffender läßt sich das derzeit avancierteste Tanzgeschehen kaum umreißen, das schon lange vom Indikativ zum Konjunktiv übergesprungen ist – es hätte getanzt werden können.