Die Hände der Händler

Aloisio Avaz zeigt ein Doku-Drama über den "Hermannplatz"

1 Dec 2000German

item doc

Contextual note
This text was commissioned by the Frankfurter Allgemeine for its Berlin section in december, 2000. For technical reasons, the article never appeared.
Die neue Schaubühne am Lehniner Platz hatte vor langer Zeit einmal den „sozialen Brennpunkt oberer Ku’damm“ entdeckt und durch Sasha Waltz’ Truppe in ein Tanzstück umarbeiten wollen. Daraus ist nichts geworden. Statt dessen haben jetzt der brasilianische Tänzerchoreograph Aloisio Avaz und sein Musikerkollege João Guimarães den nicht gerade reputierlichen Berliner Bezirk Neukölln zum Ausgangspunkt einer inszenatorischen Forschungsreise gemacht und dabei dem trotzigen Leben rund um den „Hermannplatz“ die inneren Stimmen abgelauscht. Herausgekommen ist eine lakonisch-zärtliche Stunde über ein Stück Berlin, dessen soziale Brisanz niemand ernsthaft bestreiten wird. Nur daß man diese Szenerie mit Rührung betrachten könnte, dürfte überraschen.

Für seine Liebeserklärung an das eigenartig elende und zugleich triumphierende Treiben zwischen Leitkultur und Sozialhilfe, zwischen Normalität und Mief rund um das nördliche Herz des Bezirks hat der Wahlneuköllner Avaz viel dokumentarisches Material eingefangen: Stimmen vom Wochenmarkt, Vogelgezwitscher, U-Bahn-Abfertigung, auch Gespräche mit Pennern und Händlern, dazu Videobilder von stoischen alten Türken auf einer Bank, von Straßenschildern und Müttern mit Kinderwagen. Neben solches „auf der Straße“ recherchierte Material stellt Avaz nur wenige Tanzsequenzen, in denen er sich mit besonders prägnanten Typen und Verhaltensweisen beschäftigt. So staffiert er sich in der Eröffnungsszene auf nüchterner Bühne mit Goretex-Blouson, Base-Cap, Sonnenbrille und tragbarem Tapedeck zum gockelhaften Kleinkriminellen aus, dessen Gebrauchtwarenkult sich auch auf sein gestisches Repertoire erstreckt: neben die Machopose, den Griff in den Schritt und den eingeübten Habitus des ewigen Siegers montiert Avaz zunächst fast unmerklich, dann immer karikierender die Schwächephasen. Kleinste, mehr mimische als tänzerische Bewegungen – eine Irritation im Blick, ein Ruck mit dem Kopf, ein leichtes Einknicken des Oberkörpers, ein tuntiges Wedeln mit der Hand – zeichnen die Nähe von ludenhafter Coolness und menschlichem Absturz, von hierarchischer Selbstbehauptung und erbarmungslosem Niedergang.

Es folgt die allfällige Sehnsucht nach ein bißchen Kitsch und Frieden. Avaz kramt acht kleine Nippes-Inseln aus dem Asia-Shop hervor: piepsende und blinkende Arrangements mit Vögeln und Blumen und Häuschen. Sie sind sensorisch empfindlich, und wann immer die Musik zu laut oder der Tanzschritt zu heftig wird, plärren sie kurz auf. Unterdessen ist ein Penner in seinem ebenso erbärmlichen Paradies zu sehen, einer Bank kurz vor der Straße. „Ick lebe jetzt in Neukölln, a’er eijentlich bin ick Chalottenburjer!“, kräht der Angetrunkene in die Kamera. Sein Nebenmann bellt bloß: „Laß mich in Ruhe!“ Avaz lagert unterdessen am Boden, baut die Paradiesinseln vor sich auf, während von irgendwo Vogelzwitschern erschallt. Dann erhebt er sich, gleitet und rutscht immer rasanter durch sein Labyrinth aus Kunstfrieden. Plötzlich wird es eigenartig eng und beklemmend und alle Bewegung zu groß; bei jedem Fallen piepst es schrill. Besinnlichkeit ist in Neukölln eben nicht zu haben. Mit „Hermannplatz“ hat der früher u. a. mit Angela Guerreiro arbeitende Avaz seine erste eigene Choreographie vorgelegt. Sie findet eindringliche Bilder zu ihrem Gegenstand. Denn auch der Hermannplatz hat seine ästhetischen Reize. Um sie zu entdecken braucht es freilich jene Unerschrockenheit in der Betrachtung, mit der ein eingefleischter Laubenpieper einmal zur Verteidung märkischer Kargheit gegenüber dem heroischen Hochgebirge angetreten sein soll: „Die Alpen? Na, denk dir die Berje weg, denn isset och nur ne Jejend.“