Tanz sehen als Denkweise

www.goethe.de Jul 2015German
https://www.goethe.de/de/kul/tut/gen/tan/20710783.html

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Contextual note
Dieser Artikel ist auf der Website des Goethe-Instituts e. V. unter www.goethe.de veröffentlicht.

Der Niedergang der Tanzkritik wird seit geraumer Zeit schon beklagt. Einer, der sich mit diesem Befund nie zufrieden gegeben hat, ist der belgische Autor und Denker Jeroen Peeters. Zeitgenössischer Tanz war und ist für ihn ein reiches Feld der Anschauung und des Erlebens, das er unermüdlich mit den Mitteln der Sprache bestellt – seit nun schon fast 20 Jahren.

Peeters hat regelmäßig Rezensionen für die Tagespresse geschrieben, war Dramaturg für Meg Stuart oder Performer bei deufert&plischke und ist einer der Gründer der legendären flämischen Internet-Plattform sarma für Tanz- und Choreografie-Denken. Sein Ethos besteht darin, zwar durchaus über die Werke aktueller Künstlerinnen und Künstler zu schreiben, aber niemals ohne sie und an ihnen vorbei. Insofern ist er auch kein Kritiker, dessen Auftrag in der Bewertung bestünde. Sondern er ist Denker und manchmal auch Chronist. Im langjährigen und engen Austausch mit Choreografen wie Vera Mantero, Boris Charmatz, Philipp Gehmacher, Kattrin Deufert und Thomas Plischke, Jennifer Lacey oder Meg Stuart begleitete er Arbeits- und Denkprozesse, analysiert kritische Strategien – oder vielleicht müsste man treffender sagen: Strategien der Kritik – und stellt sich selbst als „professioneller Zuschauer“ zwischen die unterschiedlichen Regimes des Theaters, des Sehens, des Verstehens und der Wahrnehmung.

Nun hat Peeters, dessen Wirkungskreis sich auf ganz West- und Mitteleuropa sowie Skandinavien erstreckt, wichtige Texte aus den vergangenen 15 Jahren in einem Buch zusammengestellt: Through the Back. Es handelt sich dabei zumeist um Artikel in Fachzeitschriften, die er ins Englische gebracht, überarbeitet, aktualisiert und um ein Vorwort und ein Schusskapitel ergänzt hat. Der Untertitel dieser Jeroen-Peeters-Anthologie umreißt das eigentliche Thema: „Situating Vision“ meint, dass schon die Kulturtechnik des Sehens eben gerade keine Universalie ist, keine unhinterfragte Konstante eines künstlerischen Weltzugangs. Sondern dass dieses Primat der Sichtbarkeit, das dem Theater als Institution bereits vorausliegt, dem Tanz eine ganz eigene Aufgabe zuweist. Denn, so Peeters im Einleitungskapitel, „This practice of looking is itself discursive, as it is formed by a history of media and images and thus also situated in the realm of cultural intelligibility.“ („Diese Praxis des Sehens ist selbst schon diskursiv, und sie ist durch eine Geschichte der Medien und Bilder gegangen; somit situiert sie sich im Bereich der kulturellen Lesbarkeit.“)

 

Bilder sehen uns an

Zwar ist es keine neue Einsicht mehr, dass aktueller Tanz als Kunstform weit mehr umfasst als bloß das Arrangieren von Körpern und Bewegung zu choreografischen Gebilden. Aber die Komplexität und auch die Schwierigkeit beim Sehen von Tanz und beim Verstehen seiner Werke verlangen kulturwissenschaftliche und wahrnehmungskritische Perspektiven, die nicht im Horizont des bloß Ästhetischen bleiben können.

Andererseits bezieht sich dieses Sehen nicht nur auf Bilder, sondern auf Bewegung, deren Medium die Körper sind. Das Sehen ist also eine Interaktion zwischen dem Körper des Zuschauers und dem des Tänzers. Und in dieser Interaktion liegt eine ganze Reihe von Möglichkeiten begründet, das Genre Tanz zu konstituieren. Tanz ist demnach eine Konkretisierung des Seh-Auftrags, bei dem Situationen hergestellt werden, die das Sehen als solches, vor allem aber das Zusehen an eine bestimmte Form der Repräsentation von Bewegung durch Körper knüpft. „In dance, the imaginary intertwining and multiplication of the bodies of performers and spectators ... literally and actively situates vision between moving bodies.“ („Die Vermengung und Vervielfachung der Körper von Performern und Zuschauern auf der Bildebene verortet im Tanz ganz buchstäblich und aktiv das Sehen zwischen bewegten Körpern.“) Und diese Verknüpfung interessiert den Autor von Through the Back.

Mit dem Rücken – der Titel verweist auf den großen blinden Fleck unserer visuellen Kultur, nämlich das strukturell Unsichtbare, welches allem Sichtbaren beigegeben ist. Ohne technische Hilfsmittel oder komplizierte Medienkonstrukte können wir eigentlich nur sehr wenig sehen, vor allem von uns selbst. Der Rücken bleibt immer im Verborgenen, ebenso das Innere. Dem Raum der Sichtbarkeit steht also ein mindestens ebenso großer Raum des Unsichtbaren, des Nicht-Sehbaren gegenüber. „Human vision thrives on an ‚aesthetics of disappearance‘, it overlooks looking itself and ignores the mediation of the visual act“ („Das menschliche Sehen verfolgt eine ‚Ästhetik des Verschwindens‘; dabei übersieht es das Sehen als solches und übergeht die Vermittlungen des Seh-Aktes.“), wie Peeters das nennt.

 

Die verschlossene Welt

Zeitgenössische Choreografie – oder jedenfalls derjenige Ausschnitt des Kunstschaffens aus den vergangenen 15 Jahren, auf den Peeters seine Aufmerksamkeit gerichtet hat – ist ein beständiges Verhandeln dieser Zusammenhänge. Welche Bedeutungen entstehen, wenn nicht nur das Sicht-, sondern auch das Unsichtbare bedacht wird? Wie einheitlich können Sinngefüge sich strukturieren, deren Ganzheit sich niemals zeigt? Genau hier kommt für Peeters der Tanz ins Spiel. Dessen Akteure – die Kritiker inbegriffen – „are no longer outside observers of reality driven by the modern triumph of representation; … they explore the question of why the world doesn’t simply present itself to their view in a light and transparent form.“ („… haben keinen Außenblick mehr auf eine Wirklichkeit, die vom modernen Triumph der Repräsentation geprägt ist; sie befassen sich mit der Frage, warum eigentlich sich die Welt nicht ihrem Blick klar und transparent darbietet.”) Es ist deshalb nur folgerichtig, dass Through the Back ohne ein einziges Tanzfoto auskommt. Schließlich geht es darum, den Tanz hinterm Tanzen zu sehen – den Tanz als Denkform.
 

Jeroen Peeters, „Through the Back. Situating Vision between Moving Bodies“. University of the Arts, Helsinki 2014. 312 Seiten, ISBN 9-789526-670386.