Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden

Zur Be-Gründung alternativer Zeit- und Raumerfahrung in dem choreografischen Format „walk+talk“

www.philippgehmacher.net Jun 2010German

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This is not a lecture. Don’t trust my words. (Oleg Soulimenko) Es gäbe keine besseren ersten Worte für einen Text über „walk+walk“ als die ersten Worte des „walk+talk #1“. Sie scheinen auf die Spekulationen zu antworten, was von diesem von Philipp Gehmacher erfundenen Format denn nun zu erwarten sei. Keine Lecture also, glaubt man Soulimenko. Der Sprecher selbst rät davon allerdings ausdrücklich ab. Andererseits: Traut man seinen Worten also nicht, denen zufolge dies keine Lecture sein soll - worauf anders gründet sich dieses Misstrauen dann als auf Worte, die es getreu in die Tat umsetzt.

Im März 2008 lud Philipp Gehmacher als Bestandteil seiner mit Gastspielen und einer Installation ergänzten Kuratierung „still moving“ neun Tänzer und Choreografen ein, sich wie er selbst im Wiener Tanzquartier jeweils allein auf der Bühne der Halle G mit wichtigen Parametern ihrer Arbeit sozusagen in actu zu befassen. Er gab den Veranstaltungen den Titel „walk+talk #1-#10“. Teil nahmen in der Reihenfolge ihres Auftretens an fünf je zweiteiligen Abenden Oleg Soulimenko, Meg Stuart, Philipp Gehmacher, Antonia Baehr, Rémy Héritier, Sioned Huws, Boris Charmatz, Jeremy Wade, Milli Bitterli und Anne Juren.

Die Frage, inwiefern „walk+talk“ weder eine Reihe von Lecture Performances gewesen ist, in denen Choreografen ihre Arbeitsmethoden vorstellen, noch eine Serie von Improvisationen, stellt sich auch ohne die Zweifelhaftigkeit von Oleg Soulimenkos Behauptung „Dies ist keine Lecture.“ Eine mögliche Antwort wird hier vorgeschlagen. ... rethinking the mouth-space. (Boris Charmatz) Wenn ich dabei aus meiner Erinnerung an das ‚walking’ und das ‚talking’ im einzelnen zitiere, dann nicht, um die Künstler als Fürsprecher in diese Analyse einzuspannen, und es bleibt jedem überlassen, ob er/sie diesen Worten trauen mag oder nicht. Beide Textebenen bilden wechselseitig Bezugspunkte füreinander, sie fungieren dabei nicht als Belege, mehr als Störgeräusche. Do you understand me? It’s ok. You don’t have to get it. (Meg Stuart) Dasselbe gilt für die Diversität und die gleichzeitige Aufeinanderbezogenheit der zehn Stimmen innerhalb der „walk+talks“. Keine steht dort, so meine These, einfach ‚für sich’. Mich interessieren hier weniger Inhalt und Form der einzelnen Versionen als Zeugnisse künstlerischer Selbstdarstellung, sondern ich möchte der Resonanz und Widerständigkeit nachgehen (sic), die diese Versionen innerhalb des von Gehmacher gesetzten Formatrahmens an- und ineinander erzeugen. Ich betrachte „walk+talk“ als ein kollektives choreografisches Gefüge, in dem auf der Bühne wie im Zuschauerraum mit Fragen von Aneignung und Widerstand, Einschreibung und Erinnerung, Geschichtlichkeit, Dauer und Projektion umgegangen werden muss.

I.
I walk.
I walk and.
I walk and talk.
(Antonia Baehr)

Antonia Baehr nimmt sich vor, den Namen beim Wort zu nehmen. Zumindest sagt sie das. Sie geht und spricht dabei aus, dass sie geht und dass sie spricht. Jeden Schritt, jedes Wort regelt der Beat eines Metronoms, das Baehr in der Bühnenmitte platziert hat und um das ihre Umlaufbahnen kreisen. Es dauert nicht lange, und Beat, Wort und Schritt zerfallen mit der Zeit unwillkürlich in ihr. Spielräume tun sich auf zwischen dem Projekt der vorgeschriebenen Handlung und seiner ungenügenden Realisierung. Sie kommen der Performerin mehr als nur entgegen. In ihrer Arbeit mit Handlungsanweisungen und Scores, die sie auch in ihrem „walk+talk“ einsetzt, erhofft sich Baehr ganz ähnliche, mit dem Scheitern, dem Kollaps von Situationen unter dem Druck überdeterminierter Strukturen plötzlich auftretende Er-Öffnungen. Prognosen etwa sind nützliche tools, weil sie durch pure Projektion sprachlich materielle Realitäten schaffen, zu denen man sich verhalten muss. Imagine that you are crossing the room... (Anne Juren)

 

Die materielle Kollision von Sagen und Tun

And she will press „Play“. (Antonia Baehr) Baehrs Ausdruck, als ihr klar wird, dass der falsche Track beginnt, weil sie den falschen von zwei Ghettoblastern bedient hat, ist eine solche Er-Öffnung. Sich selbst laut nun den Weg zum anderen, richtigen Gerät ein zweites Mal in aller Kleinteiligkeit vorhersagend - wie sie quer durch den Raum zur anderen Bühnenseite geht, sie die Hosenbeine mit spitzen Fingern leicht anhebt, sie in die Hocke geht und sie die diesmal korrekte Taste herunterdrückt - ist ihr neben dem Ringen um Konzentration auch eine erfüllte Irritation anzusehen. Sie kann selbst kaum glauben, dass sie der Struktur der eigenen Praxis gerade ‚wirklich’ erlegen ist. Projection meets projection, I would say. (Philipp Gehmacher)

Ok, watch this! (Meg Stuart) Es ist dieses Ineinanderführen und Auseinanderbrechen von Sagen und Tun, der Moment und mehr noch die Bewegung ihrer materiellen Kollision und deren Folgen, auf die in „walk+talk“ alles hindeutet. Nicht, um ein weiteres Mal betreten vor Publikum den Spalt zwischen Körper und Intellekt abzuschreiten oder mit gespieltem Entsetzen die unmögliche Gleichzeitigkeit von Materialität und Reflexion in Bezug auf das Ereignis auszusprechen. Schon gar nicht, um die Choreografen die Schaffensprinzipien ihrer Autorschaft erklären zu lassen. Do you have any questions? (Boris Charmatz) Klarer wird die Aufeinanderbezogenheit von Gehen und Sprechen, um die es hier geht, wenn man Philipp Gehmachers eigene choreografische Auffassung von ‚Äußerung’ (utterance) hinzuzieht wie er sie in seinen Stücken wortwörtlich in den Raum stellt. Sie unterscheidet sich erheblich von dem an Judith Butler und J.L. Austin geschulten Begriff der Performativität einer Antonia Baehr und der Sprachlichkeit ihrer Handlungs-Texturen. Gehmachers Äußerung artikuliert ein physisch-reflexives Vermögen, das ebenfalls in einem Zwischenraum siedelt: dem der Intersubjektivität. Für Gehmacher ist hier der Ort der Problematisierung des Subjekts. What do you see in me? (Meg Stuart) Seine ‚utterance’ veräußert aber immer auch die Frage nach ihrem Potenzial, nach der Möglichkeit, sich hervorzubringen, zu zeigen und mitzuteilen, in einer ständigen sprunghaften Ver-Stellung des einen durch das andere durch das Dritte. Getragen von der Oszillation zwischen Körper-Sein und Körper-Haben, Sprache-Sein und Sprache-Haben. Wesentlich immer in Relation zu, im Hin-Blick auf: me, the world, you. (Philipp Gehmacher) Den Raum, den eigenen, den anderen Körper. Would you exchange space with me? (Sioned Huws)

Der Zwischenraum als der Raum zwischen Räumen wird in „walk+talk“ zuerst durch einen übermächtigen visuellen Eindruck verschlossen. Why don’t you just follow the wall? (Anne Juren) Die Halle G, angelegt als multifunktionale Veranstaltungshalle, die den Anforderungen von Tanz, Theater, Musical oder Konzert nach Bedarf angepasst werden kann, hat der bildende Künstler Alexander Schellow für seine Raumbearbeitung entkleidet bis auf die Mauern. Tagelang wurden Schlaufe für Schlaufe hunderte von Quadratmetern der schweren, schwarzsamtenen Schalldämmungsvorhänge abgeknotet. Some years ago I was performing here as a dancer. And in the middle of the performance I was exactly here. But at that moment I was kind of ... hidden. (Rémy Héritier) Das Vorhaben von Gehmacher und Schellow, den nach theatralem Konsensus neutralisierten, ausgeschlagenen unverhüllt Raum zu zeigen, stellt die Theatertechnik bei einer Halle dieser Größe vor eine maximale logistische Herausforderung. Letztlich handelt es sich nach deren Logik bei dem Entfernen der als feste ‚Einbauten’ wahrgenommenen oder eben nicht mehr wahrgenommenen Verhänge sogar um eine besonders aufwändige Ausstattung. Ein Großteil des Raumbudgets verbrauchte sich deshalb in umgekehrter Richtung: mit dem Wegnehmen, dem Freistellen als inszenatorische Arbeit und als Kostenfaktor.

 

Der Raum als seine eigene Skulptur

Der Effekt ist enorm. Und überraschend. This space is very scary to us. (Antonia Baehr) Riesenhaft, überpräsent, die Wände geädert von den Zügen, den Arbeitslichtleisten und der Kabelage der Technik, ist die Halle nun sichtbar. Doch was sieht man? The theatre as a nervous system. (Jeremy Wade) Halle G wird zu ihrer eigenen Skulptur. Hinten mittig läuft der Raum aus in eine absurde kleine Bühne auf der Bühne, eine niedrige boxförmige Apsis mit einer hohen Metalltür an der Rückseite, die den Sog seiner Tiefe noch verstärkt. Ästhetisiert wirkt, was eben noch in seiner Funktionalität verborgen war, wie verschwenderische Ornamentik. Die Halle wird anmaßend, gefräßig. I want to imagine that this whole space comes and eats me. (Milli Bitterli) Die Auseinandersetzung mit Raum, mit diesem hergestellten Raum, findet ihre Fortsetzung als ein wiederkehrendes Thema in den „walk+talks“. Sie bringt unterschiedliche Strategien hervor, nicht nur in Reaktion auf die Architektur, sondern auch auf die Installation, mit der Halle G unter Mitarbeit des Soundkünstlers noid präpariert worden ist. Instantly I am attracted to the periphery. (Sioned Huws) Der mit minimalen Unregelmäßigkeiten in der Bahnenlänge verlegte helle Tanzteppich wirft ungehörig einige Falten, die zu störend sind, als dass man sie nur zufällig übersehen hätte. Er zieht sich fast bis an die Ränder der Halle und lässt doch eine schmale Umlaufbahn Parkettboden frei. Damit bildet er nicht die übliche komprimierte symmetrische Tanzflächeninsel, die den Fokus von den Rändern abzieht, aber er füllt den Raum auch nicht ganz aus. Boden- und Standmikrofone schaffen, verbunden mit einem System aus Lautsprechern, Zonen mit speziellen Sound-Eigenschaften. To describe is to create. To create is to describe. (Oleg Soulimenko) Regelmäßig über der hinteren kleinen Apsis verteilte Mikrofone sind beispielsweise mit einem äquivalenten, im Maßstab gestreckten Lautsprechernetz über der Tribüne verbunden, das den Klang aus der größten Raumtiefe direkt über den Zuschauern aufgespannt wiedergibt. Der Ton aus der vorderen Bühnenmitte, dem Ort der direktesten Frontalansprache, kann umgekehrt gespiegelt nach hinten an die Metalltür der Apsis projiziert werden. Diese und weitere Interventionen, die akustisch Faltungen und Verwerfungen im Raum erzeugen, sind einzeln verfügbar. Sie können auf Wunsch von den Choreografen aber ebenso deaktiviert werden. How can I connect? (Anne Juren)

 

Orte der Erinnerung, Überlegung, Überschreibung schaffen

Mit dem visuellen ‚Minimalismus’ dieser Eingriffe verhält es sich ähnlich wie mit der Funktionalität des ‚Realraums’ Halle G: Er ist ganz klar ästhetische Setzung. Als solche kommt er Philipp Gehmachers eigenem künstlerischem Umgang mit Raum sehr entgegen, während er der Arbeitsweise etwa von Meg Stuart oder Jeremy Wade einigermaßen fern liegt. Das ist in Hinblick auf die Bewegungsfreiheit der „walk+talk“-Akteure verschiedentlich kritisiert worden. Bezeichnender Weise nutzt aber gerade Stuart die Reibungsfläche, die der Raum ihr durch seine gestaltete Oberfläche bietet, maximal aus, um ihn mit der für sie notwendigen theatralen Nervosität aufzuladen. What do you want from me? (Meg Stuart) Auf die Zuschauer zu und wie getrieben im Rückwärtslauf zurück bewegt sie sich vor allem in der mittleren Raumflucht und lässt ihren Körper, wenn er winzig klein schon fast im Dunkel verschwindet, dank der Sound-Inversion gleichzeitig mit seinem Aufprall an der Metalltür vorwärts direkt auf die Zuschauer krachen. Könnte man also nicht auch sagen: Dass Gehmachers eigenes räumliches Denken in die Bearbeitung der Materialität des Raumes eingeflossen ist, hat eine notwendige Folie geschaffen. Time to be somewhere else. (Oleg Soulimenko) Sie verunmöglicht einerseits jede Verharmlosung und Idealisierung des ‚leeren’ Raums als ungestaltet, neutral oder gar demokratisch und bietet andererseits ein ganzes Arsenal teils versetzbarer Landmarken, mit deren Hilfe sich über die Zeit der wechselnden Nutzungen eine Vielzahl von Räumen in Reibung mit den gegebenen Optionen konstituieren kann. ... making you exist by my gesture. (Boris Charmatz)

Who tells him to do what he does? (Antonia Baehr) Boris Charmatz wählt in seinem „walk+talk“ für die Demonstration der kontextabhängigen Beweglichkeit in der Bedeutung von Körperzeichen und die insgesamt sprachlich-diskursive Verfasstheit des Choreografischen als einer Modellierung von Prozessen des (Aus-)Lesens die höfische Verbeugung der révérence. Eben noch eine Geste der Selbstermächtigung, die den Untertan im Erkanntwerden durch den König immer wieder neu in die Abhängigkeit seiner Existenz ruft, um ihn dessen Unantastbarkeit bezeugen zu lassen, wird sie im Körper des Sklaven zum Zeichen der Unterordnung, zur Beugung in die Fremdbestimmtheit. I am gonna try to find some freedom. (Jeremy Wade) Die Gesten auf den Umraum hin, mit denen sich die Performer in „walk+talk“ in ihm individuelle Orte der Erinnerung, Überlegung, Ausblendung und Überschreibung schaffen, auch ihre Verweise auf das, was diesen Umraum an anderen Worten, Körpern, Wegen und Orten im Verlauf der Serie durchzieht, gleichen einer révérence, die genau zwischen Ermächtigung und Ergebenheit hellwach stehenbleibt. I could be the event now. But the building we are in now could also be the event. That’s only a matter of focus. (Rémy Héritier) Definiert Anne Juren, wenn sie im „walk+talk #10“ mit dem Rücken zur Seitenwand auf dem Boden sitzt und von „being the periphery“ spricht, durch ihre Benennung eine Zone der Randständigkeit oder aktualisiert sie nur eine vorgegebene Struktur? Stülpt sich im Fokus der Aufmerksamkeit beim Zuschauer nicht im selben Moment der Raum von innen nach außen und hat sein Zentrum an der Peripherie?

 

Diskurs als Monument

What is your reference point? (Anne Juren) In diesem Raum, der als hervorgebrachter und als wahrgenommener seine Geschichte, seine Form in „walk+talk“ immer schon ‚von anderen’ und ‚durch anderes’ hat, bilden sich unablässig neue Schichtungen heraus, obwohl die weiße Tanzfläche zu Beginn jedes Abends wieder jungfräulich und leer erscheint. Die Arbeit, mit diesen Verwerfungen umzugehen und sie zu betrachten, gleicht der Arbeit der Foucaultschen Archäologie. Die physischen und verbalen Bewegungen und ihre Spuren sind dann eben nicht Verweise in die Tiefe auf einen dahinterliegenden Sinn, etwa auf eine personale Psyche oder Rhetorik. Sie werden selbst zu Gegenständen in einem diskursiven Feld, und als solches lässt sich die Struktur „walk+talk“ durchaus begreifen. You can’t steal a movement. You just use it. (Oleg Soulimenko) Das Besondere an einer Handlung, sagt Meg Stuart, sei, dass man sie wie ein Objekt von allen Seiten betrachten könne. Archäologie, so Foucault „behandelt den Diskurs nicht als Dokument, (...) sie wendet sich an den Diskurs in seinem ihm eigenen Volumen als Monument. Es ist keine interpretative Disziplin, sie sucht nicht einen 'anderen Diskurs', der besser verborgen wäre. Sie wehrt sich dagegen ‚allegorisch’ zu sein.“ (Foucault: 198) For me horse riding is a matter of dissociation, abstraction because when you want to get something you’re facing the fact that you’re not speaking the same language. (Rémy Héritier)

Blink-blink. (Jerremy Wade) Jurens Blick auf die leere Fläche folgend, findet man in ihr unzählige sich überlagernde, schneidende materiell-immaterielle Räume und Bewegungslinien: Meg Stuarts konfrontativer Korridor die mittlere Flucht auf und ab. Philipp Gehmachers seitlich ausgestreckter Arm, der mit den Fingerspitzen genau ihre Weglinie ‚berührt’ und dabei die Dramatik, mit der Stuart den Raum bildlich auflud, förmlich zurücknimmt, nach innen ableitet. Die Tanzteppichfalte, die diesen Arm horizontal verlängert und dort endet, wo die Zirkularität der gelaufenen Acht ihren Nukleus hatte, zu der Antonia Baehr direkt im Anschluss an Gehmacher den Raum zusammenzog. Auch Anne Juren geht Tage später eine Weile auf ihr entlang, ehe sie die Schleife anhält, mit sich beiseite nimmt und sie dort imaginär wieder ausrollt als die gerade Linie eines Umweges entlang der Peripherie, auf dem Sioned Huws die Halle, minutenlang um sich selbst kreiselnd, umrundet hat. Blink-blink-blink. (Jeremy Wade)

I never see an empty space. (Meg Stuart) Welcher Art sind diese Relationen? Und wo sind sie eigentlich oder stellen sich her: im Raum, in der Bewegung, in der Wahrnehmung des Zuschauers, der das gerade und zuvor Gesehene zu einem räumlichen und zeitlichen Hybrid zusammensetzt, oder immer schon in seiner Erinnerung? Was haben die einzelnen körper-sprachlichen Reflexionen miteinander zu tun und was tun sie miteinander?

 

Leerer Raum, planierter Grund und die choreopolitische Formation der Moderne

Was ich in Bezug auf Gehmachers eigene Stücke ein ‚In-den-Raum-Stellen’ genannt habe, wird in „walk+talk“ als ein relationaler Vorgang der Verräumlichung wahrnehmbar oder anders gesagt, Choreografie kristallisiert sich als interpersonelles Netz von Verortungen und zeitlichen Kontraktionen zwischen den einzelnen proposals heraus. Ich folge hier Sioned Huws, die in ihrem „walk+talk“ bemerkt, das Interessante an diesem Format sei für sie nicht das individuelle proposal, „but what they say about each other.“ The interesting thing is how to shift from what I have done randomly to what I could do to what has been done. (Rémy Héritier) Die Nutzungen aktualisieren sich gegenseitig in einem Prozess, der sich anders vollzieht als zeitlich linear und räumlich konsistent. Was mit dem installativen Setting von „walk+talk“ vorgeschlagen wird, ist eine spezifische Art der Be-Gründung von Bewegung im Theaterraum, und ebenso die der Serialität des Formates innewohnende Zeitlichkeit einer gewissen Dauer im Verhältnis zu der fortlaufenden Realisierung von Körpergeschichte(n) im Raum und als Raum. It is interesting to think about limitation. (Milli Bitterli) Der Begriff der Be-Gründung ist dabei nicht zu verwechseln mit dem der Begründung, und zwar weder im ontologischen noch im Sinn eines eindeutigen, linearen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung, der in kausalen Theorien der Zeit etwa bei Kant und Leibniz erst die Lokalisierung eines Geschehens als bestimmte „Stelle“ in der Zeit und damit den linearen Zeitverlauf selbst ermöglicht. Be-Gründung zielt vielmehr auf den Grund als einen je konkreten materiellen Untergrund von Bewegung wie im englischen Wort „ground“. This is where I am and where the world begins. (Philipp Gehmacher) In seiner Kritik modernistischer Subjekt- und Bewegungsideologie weist André Lepecki darauf hin, dass ein zur Fläche planierter, abstrahierter, formloser Untergrund die choreopolitische Formation der Moderne überhaupt erst ermöglicht hat „for modernity imagines its topography as already abstracted from its grounding on a land previously occupied by other human bodies, other life forms, filled with other dynamics, gestures, steps, and temporalities.“ Many years I was trying to get up from the floor. (Meg Stuart) In Anlehnung an Homi Bhabhas Identifikation eines unauflösbaren Zusammenhangs von Kolonialismus und Moderne attestiert Lepecki beiden eine zentrale „spatial blindness (of perceiving all space as an „empty space“)“: „This bulldozing of the ground, a colonialist gesture, is also a gesture that allows for representation to take place on an empty flatness, and that generates, sustains, and reproduces a subjectivity that perceives its own truth as a self-propelled „machine for free movement“ (...) gliding along a flat and unmovable terrain“.

 

Die Unmöglichkeit, im Raum zu sein.

Who tells him to walk? (Antonia Baehr) Lepeckis Bild von der planierten, geschichtslosen Fläche des abstrahierten Grundes als Bedingung für die modernistische Ontologie von Bewegung und Subjekt lässt sich mit Raumvorstellungen in Verbindung bringen, die Martina Löw in ihrem Entwurf einer „Raumsoziologie“ als absolutistisch zurückweist. Shifting between picture and activity. (Anne Juren) Löw wendet sich gegen Konzepte, die den Raum als Container für Körper, Menschen, Handlungen und damit als abstrakte Kategorie setzen. Sie bestreitet, dass Raum als Materialität im Sinne eines physischen Substrats überhaupt existiert. Man ist ihr zufolge nie im Raum. Auch ist Raum ‚leer’ nicht zu denken. Menschen sind in seine Konstitution immer schon zweifach einbezogen: „(...) zum einen können sie ein Bestandteil der zu Räumen verknüpften Elemente sein, zum zweiten ist die Verknüpfung selbst an menschliche Aktivität gebunden.“ Twisting spine is always the motor of being towards. (Philipp Gehmacher) Konstitutionen von Raum bringen systematisch Orte als Resultat von Platzierungen hervor. Orte ihrerseits machen die Entstehung von Raum erst möglich. I spend a lot of time observing my hands. (Meg Stuart) Die Folge eines solchen entterritorialisierten Raumverständnisses ist, dass sich zur selben Zeit mehrere Räume am selben Platz materialisieren, dann aber auch quasi materielle Stabilität und Widerständigkeit aufweisen können. Close up of hand. (Milli Bitterli) Als „relationale (An)Ordnung“ ist Raum zugleich strukturierend und strukturiert. ... a small hand without its daily function ... that arm that rises above shoulder-level ... (Philipp Gehmacher) Er entsteht wesentlich prozesshaft. I watch my arm caressing your leg. (Anne Juren) Löw unterscheidet zwei im alltäglichen Handeln parallel ablaufende Prozesse: das Spacing und die Syntheseleistung. Bezeichnet Spacing das Errichten, Bauen oder Positionieren als die Bewegung hin zu einer Platzierung in Relation zu anderen Platzierungen, beschreibt die Syntheseleistung eine gegenläufige, für die Raumkonstitution ebenso notwendige Bewegung, in der über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse Menschen und materielle sowie immaterielle Güter erst zu Räumen zusammengefasst werden. Löw betont den Aspekt der Wahrnehmung und den Umstand, dass diese weit mehr einschließt als die visuelle Ebene sichtbarer Verteilungen. Wahrnehmungsprozesse bewirken nicht allein, „dass die Außenwirkungen der sozialen Güter und anderer Menschen aufgenommen werden, sondern auch, dass sie diese dann selbst beeinflussen können, wenn die Objekte selbst nicht sichtbar sind.“ ... the hard work of perception! (Oleg Soulimenko)

Das Theater ist Teil des sozialen Raumes in einer Gesellschaft. You can relax, this is not a performance. (Sioned Huws) Und doch gerät ein Raumverständnis wie es sich in der Bespielung und Betrachtung der mit rutschfestem Tanzboden ausgeschlagenen Black Box oftmals niederschlägt, in große Nähe sowohl zu der räumlichen Blindheit, von der Lepecki spricht, als auch zu dem von Löw zurückgewiesenen Container-Raum. Noch in der Raumtheorie des postdramatischen Theaters etwa bei Hans-Thies Lehmann hat Raum, auch wenn er nicht mehr als Dramen-„Schau-Platz“ dient, im Prinzip noch eine Behälterfunktion. Zwar ist der „postdramatische Raum“ nicht mehr die plane Projektionsfläche bzw. das Territorium für einen anderen fiktionalen Ort. Aber implizit ist, wenn „der Theatervorgang zur wesentlich bildräumlichen Erfahrung“ wird, die Kreation eines in seiner gesteuerten Durchbrochenheit immer noch geschlossenen, das Geschehen umschließenden inszenatorischen Raums als Behältnis von Erfahrung beschrieben. I stand before you tonight, the Iron Lady of the Western world. (Rémy Héritier) Dies wird vor allem deutlich, wenn ein Theater, das sich mit konkreten räumlichen Materialitäten befasst, Orte „zum Sprechen“ bringt, unter „Theatre on Location“, also als Theater außerhalb des Theaters abgehandelt wird. Der postdramatische Raum im Theater hingegen, der sich nicht lokalisieren muss oder kann, stimuliert, so Lehmann, in erster Linie „unvorhersehbare Verschaltungen und Konnexionen der Wahrnehmung.“ Reformuliert mit Martina Löw, stimulieren in „walk+talk“ strukturierende und strukturierte Wahrnehmungen und Konnexionen die Konstitution einer Vielzahl unterschiedlicher Räume. Sie bilden auf der Bühne eine geschichtete, immer wieder überbaute choreografische Architektur aus, in der sich nie nur der eine Körper befindet, der sich und sie gerade konstituiert. How to stand still on stage? (Milli Bitterli)

 

Strategien der Aufweichung territorialer Setzungen

Wenn man die Bühne nicht als die vorgegebene Fläche für Projektionen oder als Container von Imaginationen hinnehmen will, bedeutet das, dass der Bühnenraum immer neu und potenziell konflikthaft Weise zwischen den jeweiligen Akteuren ‚ausgehandelt’ werden muss. If its not enough you can try to destroy the space. (Boris Charmatz) Zu diesen Akteuren gehören sowohl die Choreografen der „walk+talks“ als auch die Zuschauer. Beide Gruppen - und hier liegt eine weitere Strategie der Aufweichung territorialer räumlicher Setzungen - lassen sich nicht eindeutig voneinander trennen. Die teilnehmenden Künstler waren für die Dauer der gesamten einwöchigen Kuratierung „still moving“ eingeladen und die meisten von ihnen verfolgten vor und nach ihrem eigenen „walk+talk“ die übrigen als Teil des Publikums. Ihr Zugang zum eigenen proposal entwickelte sich auf zwei Ebenen: derjenigen der eigenen performativen Ausschöpfung des installativen Set-Ups und derjenigen der Beobachtung anderer möglicher Räume in diesem Raum - und ich erinnere noch einmal daran, dass solche ‚Beobachtung’ in ihrer Eigenschaft als Wahrnehmung nicht nur das umfasst, was im Moment sichtbar ist.

Die Grenze zum Zuschauerraum wurde auch von der Bühne aus überschritten, am radikalsten von Sioned Huws. I haven’t managed to achieve Philipp’s proposition. (Sioned Huws) Sie bittet die Zuschauer nach einer langen Phase, in der sie wortlos mit ihnen den leeren Raum betrachtet, ihn an ihrer Stelle zu betreten. Kaum jemand verweigert sich der Einladung. Einzeln und in Grüppchen stehen, sitzen, schlendern die Leute auf der weißen Fläche herum. Sie untersuchen die Technik, und manche scheinen gezielt von bestimmten Choreografen etablierte Orte aufzusuchen. I look at you. I don’t see you, I don’t know who you are, but I am aware of the gaze upon me. (Philipp Gehmacher) Dagegen interessiert sich ein grauhaariger Mann im blauen T-Shirt und schwarzen Sakko viel mehr für den Ort, an dem er eben gerade noch gesessen hat. Reglos steht er mitten in der bewegten Gruppe mit Blick auf die entleerte Tribüne. Er steht und schaut weiter, selbst als nach einer Weile die Zuschauer nach und nach zu ihren Plätzen zurückkehren. Dann setzt auch er sich. Mitten auf die Bühne. I want to imagine that I can sit down in a movement. (Milli Bitterli) Die Situation ist in Bezug auf die Frage, wer hier für wen performt und wer wem dabei zusieht, einen Augenblick in der Schwebe. Leave the stage! (Antonia Baehr) Auf der Tribüne wird gelacht. Der Mann auf der Bühne schaut aufmerksam zu. Bis nach einer ganzen Zeit zwei Frauen wieder aufstehen und zurückgehen, eine von ihnen auf Meg Stuarts Mittellinie an dem Mann vorbei bis zur Tür am Ende der Apsis. Kurz darauf folgt ihr Huws, die zwischenzeitlich im Publikum saß, und verlässt den Raum. Die Leute klatschen, Huws erscheint, klatschend. Alle applaudieren einander. Such an artificial gesture! (Anne Juren)

 

„Das politische Merkmal einer Handlung besteht im Geflecht, das sie bewirkt, es wird nicht vom Ort, an dem sie dies leistet, gebildet.“

In „Die Aufteilung des Sinnlichen“ bestimmt Jacques Rancière das Sinnliche als einen Möglichkeitsraum, der als aufgeteilter aber vor allem das regelt, was nicht gesehen und nicht gesagt werden kann. Ich werde hier nicht weiter darauf eingehen, dass Rancières Raumverständnis durch seine Gebundenheit an den Vorgang der Aufteilung, der sich teilend auf ein per se begrenztes Territorium, einen ‚Vorrat’ an Raum beziehen muss, containerhafte Aspekte hat. As soon as you spell something out you make a frontier. (Boris Charmatz) Erinnern möchte ich an seinen Begriff des Politischen als des potenziellen Aufscheinens des je aus einer polizeilich zementierten Ordnung Ausgeschlossenen an den Rändern jeder einzelnen solchen sinnlichen Aufteilung: „Als politisch kann jene Tätigkeit bezeichnet werden, die einen Körper von dem ihm angewiesenen Ort anderswohin versetzt; die eine Funktion verkehrt; die das sehen lässt, was nicht geschah, um gesehen zu werden; die das als Diskurs hörbar macht, was nur als Lärm vernommen wurde.“ In dem Moment allerdings, wo der Lärm vernommen wird, ist er nicht mehr Lärm, sondern Teil der Aufteilung des Sinnlichen. When I started dancing I was easily distracted. (Meg Stuart) Das Politische, dessen Grundlage die Annahme der Gleichheit aller Menschen ist, kann diese Gleichheit selbst nicht denken, weil, das Sinnliche neu aufteilend, durch diesen In- und Ausschluss nur immer neue Ungleichheiten geschaffen werden: „Die egalitäre Einschreibung und die unegalitäre Distribution in ein Verhältnis setzend, weist der politische Akt gleichzeitig die Ungleichheit der Distribution von Körpern und gesellschaftlichen Räumen und das gleiche Vermögen sprechender Wesen nach. Could you please laugh for seven minutes. (Antonia Baehr) Auf diese Weise bringt er zugleich neue Einschreibungen der Gleichheit und eine Sphäre neuer Sichtbarkeit für andere Nachweisungen hervor. Damit soll gesagt werden, dass es keine dem Politischen eigene Orte oder Handlungen gibt. Das politische Merkmal einer Handlung besteht im Geflecht, das sie bewirkt, es wird nicht vom Ort, an dem sie dies leistet, gebildet.“ I would say that doubt and indecision and the problems of choicemaking - that’s a part of it. (Meg Stuart)

 

Wahrnehmung als Gedächtnisarbeit

Wenn Raum sich prozesshaft herstellt, ist er wesentlich zeithaft. Sowohl Hans-Thies Lehmann als auch André Lepecki setzen in ihrer Kritik des Dramatischen bzw. des Bewegungsparadigmas der Moderne bei der Reformulierung des Zeit- und nicht des Raumbegriffs an. Beide berufen sich auf Henri Bergsons Konzept der Dauer (durée) im Unterschied zur Zeit (temps) - Lehmann, um die Theaterzeit als subjektiv erfahrene gegenüber einer objektiv messbaren Zeit auszuweisen, Lepecki, um der Bewegung über die Redefinition eines ihrer beiden bestimmenden Parameter ‚Zeit’ und ‚Raum’ einen möglichen Ausweg aus ihrer schicksalhaften Verkettung mit der Moderne als „being towards movement“ (Peter Sloterdijk) zu weisen. Here I have a history of being here, and of being there and the possibility to be there. What shall I do with this history? (Oleg Soulimenko) Bergson betrachtet die Zeit als eine problematische Vermischung von Dauer und Raum. In „Materie und Gedächtnis“ argumentiert er, dass die Gegenwart nur als Abstraktum existiert, da jede Wahrnehmung „einer Anstrengung des Gedächtnisses“ bedarf, „durch welche die einzelnen Momente ineinandergedehnt und verschmolzen werden.“ I once did a piece where I ... (Milli Bitterli) „Man definiert willkürlich die Gegenwart als das was ist, während sie einfach nur das ist, was geschieht (...), und in Wahrheit ist jede Wahrnehmung schon Gedächtnis. Praktisch nehmen wir nur die Vergangenheit wahr, die reine Gegenwart ist das unfassbare Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt.“ Erst die illegitime Verräumlichung der Zeit mit der Annahme, sie schreite linear in Richtung Zukunft fort, führt dazu, dass Vergangenheit als abgeschlossen gedacht wird - wobei Bergson hier ganz klar einen Behälterraum vor Augen hat: „Man vergisst, dass die Beziehung des Enthaltenden und Enthaltenen ihre scheinbare Klarheit und Allgemeinheit der Notwendigkeit verdankt, die uns zwingt, den Raum immer vor uns aufzustoßen und die Dauer immer hinter uns abzuschließen.“ This is the end. (Antonia Baehr) Der homogene Raum und die homogene Zeit sind eigentlich, so Bergson, weder Eigenschaften der Dinge selbst noch Fundamentalkategorien unserer Erkenntnisfähigkeit, sondern „der abstrakte Ausdruck für die zweifache Arbeit der Verdichtung und Zerteilung, welche wir an der bewegten Kontinuität des Wirklichen vollziehen, um uns in ihr Stützpunkte zu sichern, Operationsbasen festzulegen, ja schließlich um wirkliche Veränderungen an ihr vorzunehmen; sie sind die Schemata unserer Wirksamkeit auf die Materie.“ You can use the closeness instead of looking for this openness. You can use the closeness of you different thoughts and articulation of organs ... (Boris Charmatz)

 

Geschichtsschreibungen

Die meisten der Teilnehmer von „walk+talk“ gehen in der Halle G immer auch mit eigener Geschichte, verstanden als den Schichtungen ihrer Körpererfahrung um. Sie sind hier entweder mit ihren Stücken aufgetreten oder haben als Tänzer für andere Künstler performt. I like the idea of being caught up into history, not in a way of being trapped in it, but just being completely, hopefully involved in what is happening around. (Rémy Héritier) Wiederholt kehren sie in den „walk+talks“ zu Orten und Bewegungen dieser vergangenen Performances zurück. ... imagining that my body ... or a line I am making would ... would extend ... (Philipp Gehmacher) Milli Bitterli rekapituliert erzählend in rasendem Tempo Aktionen, die sie in früheren Arbeiten ausgeführt hat, während sie hin und her läuft, als würde sie sich selbst folgen und zusehen, als fürchte sie, den Anschluss an sich zu verlieren. People will watch you. (Anne Juren) Meg Stuart führt mit einem reißerischen „Watch this!“ die erste Bewegung aus „No One is Watching“ wie eine isolierte Pointe ohne dazugehörigen Sketch vor. Rémy Héritier wiederholt mehrmals nacheinander eine Phrase, die er einmal getanzt hat. In diesen Versionen derselben Bewegung lokalisiert er die wechselnden Performanceräume, die sich jeweils anders in die Bewegung eingetragen haben. Wie feedbacks spielt er sie zurück in den Raum. I think about movement with options. (Milli Bitterli) Philipp Gehmacher bleibt vielleicht am nächsten bei seiner Ausgangsfrage, wie und wo sprachliche und physische Äußerung füreinander durchlässig werden und wo sich ihre Modi der Reflexion so abrupt aneinander brechen, dass angefangene Sätze in der Mitte zum Stillstand kommen, weil die Bewegung zu den Worten nicht aufschließen will oder die Aufmerksamkeit ganz woanders gebunden ist. When is the transition perceivable? (Anne Juren) Auch er greift zurück auf Material aus seinen choreografischen Projekten, Material, das für ihn in seiner Praxis und in Halle G bereits einen spezifischen Ort hat. Und doch wird dieser Ort in „walk+talk“ nicht einfach reproduziert: Gleich zu Beginn ist da dieses deutliche, wenn auch zögerliche Zurücktreten von sich selbst. Come closer. (Oleg Soulimenko) Ein paar Schritte rückwärts von dem Portal zur kleinen Apsis entfernt, an dem er eben noch lehnte, betrachtet Gehmacher sie lange mit dem Rücken zum Publikum. So als projiziere er sich in die eigene unmittelbare Vergangenheit dieser Pose, um, mit Bergson gesprochen, wahrnehmend eine Gegenwart herzustellen, die sich nicht mehr ständig verfehlen muss, sondern andauernd die Verbindung zwischen Gedächtnis und Situation hält. Eine solche Gegenwart müsste nicht mehr darunter leiden, dass sie wie der Raum, der mit ihr entsteht, nie einfach ist. Sie könnte sich, wie dieser Raum, geschehen lassen. Eyes down left. Eyes down right. Eyes right centre. Eyes centre. Eyes up. Eyes down. Smile. (Antonia Baehr)

 

Alle kursivierten und mit (Namen) versehenen Aussagen sind meinen Notizen zu den Performances und den Videoaufzeichnungen der walk+talks #1-#10 entnommen.

 

Literatur

Henri Bergson: Materie und Gedächtnis, Hamburg: Meiner 1991
Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1997
Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1999
André Lepecki: Exhausting Dance. Performance and the Politics of Movement, New York: Routledge 2006
Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2001
Jacques Rancière: Gibt es eine politische Philosophie?, auf www.episteme.de http://www.episteme.de/htmls/Ranciere.html (zuletzt 1.6.2010)