Der Körper widersteht
Tanzend entlarvt Raimund Hoghe die Ethik des Heilens
Auf der Bühne brennen vier kleine Lichter. In ihrem Schein verweben sich die Silhouetten der Darsteller mit den Bühnenvorhängen, deren Schatten wiederum wie eine zweite Haut auf die Körper fallen: je länger der Prozeß andauert – und er dauert exakt einen ganzen sehnsuchtsvollen Tango lang -, desto inniger verflechten sich Raum und Darsteller, ohne daß der Vorgang etwas von seiner Leichtigkeit einbüßt. Der Kunstgriff der Spiegelung, aus der japanischen Ästhetik übernommen, ist für Raimund Hoghe, der Eigenes und Fremdes, Erinnerungen und aktuelle Ereignisse, Ideal und Wirklichkeit verknüpft, Programm. Und so finden auch der große makellose Körper der Frau (in Münster ist es Sarah Chase) und der kleine verwachsene Körper des Mannes – in einem Ausschnitt aus „Dialogue with Charlotte“ – auf ihren ungeraden und ungleichen Wegen immer wieder zusammen.
Raimund Hoghe, bekannt geworden als Autor einfühlsamer Zeitporträts und als langjähriger Dramaturg von Pina Bausch und nun schon seit Jahren mit und in seinen eigenen Stücken auf der Bühne zu sehen, wendet in seinem neuen, im Theater im Pumpenhaus in Münster aufgeführtem Programm dieses Verfahren auf sein eigenes Werk an. Die Lecture Performance, in der er wechselweise spricht und spielt, trägt, nach einem Pasolini-Zitat, den Titel „Den Körper in den Kampf werfen“, das Leitmotiv von Hoghes Arbeit. Nicht mit lauten Aktionen, sondern in leisen Szenen, nicht als Selbstbespiegelung, sondern als exemplarisches Subjekt zeigt Hoghe, was es heißt, ein Anderer zu sein und zu einem Anderen gemacht zu werden – und daß es auch anders sein könnte.
Wenn Hoghe sich gleich zu Beginn aus der stolz erhobenen Haltung des Sirtaki langsam vornüber fallen läßt und dabei die Krümmung des Rückens offenbart, anschließend eine Arabeske gebrochener Linien von allen Seiten vorführt, könnte der Kontrast zwischen Norm und Wirklichkeit kaum größer sein – aber auch der Wille nicht deutlicher, das Gewicht in dieser Beziehung stärker zugunsten der Wirklichkeit zu verschieben. Am Ende entfernt Hoghe sich so langsam, daß seine Rückenansicht vom Raum aufgesogen und schließlich ganz verschluckt wird – um postwendend für einen schönen, wild gestikulierenden Tanz im Duett mit einem Song von Dalida zurückzukehren. Sein Titel: „Leben, Leben, Leben“.
Mit seiner Arbeit, so singulär sie ist, steht Raimund Hoghe keineswegs allein. Der Ausbruch aus klar definierten (Geschlechter-)Rollen und Identitäten, der selbst vor dem Tanz, in dem Abweichungen bis in die jüngste Zeit kaum geduldet wurden, nicht haltmachte, bildet die Folie seiner Stücke. Was einst außerhalb der Norm war, wird nun zu ihrem Prüfstein. Schon Pina Bausch rückte mit ihren vielen Fragen dem normativen Gerüst des Subjektes auf den Leib, die nachfolgenden Generationen gingen darin ein ganzes Stück weiter.
Aus der Hocke in der Bühnenmitte, seiner Erzählposition auf Augenhöhe mit dem Publikum, wechselt Hoghe unvermittelt in einen Ausschnitt aus seinem ersten Solo „Meinwärts“. Raschen Schrittes auf- und abgehend, seine Arme unablässig mit kleinen Gesten abmessend – die denkbar knappste Formulierung für den Druck der Normalität - berichtet er in der dritten Person vom Entdecken seines Körpers jenseits der Norm und den hilflosen Versuchen seiner „Heilung“. Wenn er sich das Korsett umschnallt und sich langsam, einer markanten Stimme lauschend, in eine Spirale schraubt, ist er längst bei einem anderen, dem jüdischen Kammersänger Joseph Schmidt, der seines Kleinwuchses wegen - er maß, wie Hoghe, 1,54 – im nationalsozialistischen Deutschland nur im Radio auftreten durfte, durch viele Länder verfolgt wurde und in einem Internierungslager starb.
In „Chambre Separée“, Hoghes starkem Stück über das Leugnen und Wegschauen in der Nachkriegszeit, läßt er die Zuschauer auf seinen entblößten, rot markierten Rücken blicken; denn das Theater, sagt Hoghe, der sehr genau zwischen Alltag und Bühne unterscheidet, ist der Ort, „wo die Leute zum Hingucken kommen“. Ausgrenzung, die sich immer auch an Körpermerkmalen festmacht und mit der Genforschung „neue Dimensionen“ erreicht: kann es sein, daß man außerhalb Deutschlands unbefangener mit Andersartigkeit umgeht? Soviel ist gewiß: noch kein Träger des Deutschen Produzentenpreises für Choreographie – Raimund Hoghe ist es in diesem Jahr –war auf den Bühnen des Landes, in dem er lebt, so selten zu sehen. Doch enden die Stücke Hoghes, der vor allem in Belgien und Frankreich hoch geschätzt wird, nicht an nationalen Grenzen: die Themen, die er anspricht – etwa der Widerspruch zwischen Aufbruch und Gewalt in den sechziger Jahren in „Another Dream“ -, sind nicht zuletzt durch den weiten Assoziationsraum, den Hoghe herstellt, auf andere Situationen übertragbar.
Um diesen Spielraum geht es Hoghe auch in seinen Bühnenaktionen. Die Musik, meist mit einem Hang zum großen Gefühl, malt ferne Paradiese aus, während Hoghe wie ein Zeremonienmeister den asketischen Raum mit minimalen Mitteln in strengem Griff hält, die geschaffenen Ordnungen und Muster aber immer wieder umstößt. In „Lettre Amorose“ definiert er den Raum durch Häuser, die aus Stäbchen gelegt werden, und verliest vor einem Häuschen den bewegenden Hilferuf zweier junger Afrikaner, die bei ihrem Flug nach Europa als blinde Passagiere umkamen, an die Mächtigen Europas. Danach öffnet er die Wände der Häuschen, schiebt sie schließlich ganz zusammen: andere Räume sind möglich. Oder, wie Marlene Dietrich uns an anderer Stelle wissen läßt: „Alte Wege werden neue Wege sein.“