Babel revisited
Die Choreografin Petra Sabisch baut mit ihrem „conversation piece“ einen Werkraum des Sprechens
„Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen.“ Heinrich von Kleist
In der Erzählung „Die Bibliothek zu Babel“ von Jorge Louis Borges findet der Turmbau in der Horizontalen statt. Die Menschen sind Bibliothekare und verbringen ihr Leben auf einem Parcours aus Bücherregalen. Hier sollen sämtliche Texte in allen möglichen und denkbaren Sprachen lagern, die auf der Kombinatorik des lateinischen Alphabets basieren. Wie die Waben eines Bienenstocks reihen sich sechseckige Lagerkammern aneinander. Alles hat hier seine Ordnung. Sinn und Inhalt der Sammlung jedoch, ihre Herkunft oder Geschichte bleiben für die ein Leben lang lesenden Bibliothekar-Menschen unauffindbar.
Auch in Petra Sabischs „conversation piece“ hat alles seinen Platz. Der klassische Dreiakter ist selten geworden in der Performance. In diesem Fall leuchtet die penible Aufteilung allerdings ein. Die drei Akte sind verschiedenen Aspekten des englischen Begriffes „to converse“ zugeordnet und entstanden aus einer Auseinandersetzung mit den Arten und Weisen künstlerischer Arbeit heraus, den individuellen Methoden einer Gruppe von Performern und Choreografen. Ein Dreiakter also. Nach dem Fünfakter, so erfährt, wer eines der heute am weitesten verbreiten Basistools anwendet und den Begriff „nachgoogelt“ oder „wikipediert“, ist das die am häufigsten verwendete Bauform des europäischen Dramas. Darstellung, Entfaltung, Auflösung eines Konflikts. Cervantes, Lorca, Richard Wagner. Frederico García Lorca wurde am 18. August 1936 ermordet. Am selben Tag empfängt die österreichische Regierung in Linz offiziell die Sportler ihrer Olympiamannschaft. Österreich hatte im 2. Quartal 2008 exakt 8.340.924 Einwohner... Egal, welchen Eingang man nimmt, schon steht man mitten im Labyrinth der Information.
Act 1: Train of thoughts or to interact with a computer as if engage in a dialogue
„conversation piece“ beginnt auf den Spuren einer vorbereiteten Recherche. Kein Blätterrascheln wie bei Borges' Bibliothekaren. Nicht eine einzige Buchseite wird umgeschlagen. Der Gang ins Archiv, die Bibliothek selbst hat sich virtualisiert. Man sucht sie im Sitzen auf. Alles, was zu hören ist, ist der unregelmäßige Rhythmus eines „Click“ ... „Click“ ... ... ... „Click“. Ein Laptop bahnt Performern und Zuschauern einen ausgesuchten Weg durch das gesammelte Wissen oder vielmehr das Wissen, was gerade auf dieser Bühne ver-sammelt ist und in lockerer Trainingskleidung entspannt am Boden herumsitzt. Bunte Menschentupfen auf einer weißen Fläche und weitere auf einer Tribüne, die sich den ersten Akt des „conversation piece“ erlesen müssen.
Worte, Texte und Bilder, die ein Beamer auf die wie ein sechster Spieler im Raum aufgestellte Projektionsleinwand wirft, folgen dem auf assoziative Weise systematischen Gedankenfluss eines der fünf anwesenden Choreografen und Performer. „Simultaneity as a tool“, „Ballet“ und „How to produce simultaneity?“, ist zu lesen. Über die Sinne als „the physiological methods of perception“. Und: „Does simultaneity imply synchronization?“ In diesem Fall ist es der französische Choreograf und Tänzer Frédéric Gies, der auf einem „Train of thoughts“, wie der erste Akt überschrieben ist, durch die unermesslichen Weiten des world wide web und den eigenen künstlerischen Begriffskosmos gesurft ist. Von „Chorus Line“ zu „adaptation“ und von „unison“ über „difference“ zu „amplification“. Von Begriff zu Begriff und von Wikipedia-Eintrag zu Wikipedia-Eintrag springt das wiederholbar gemachte Nachdenken anhand seiner Fundstücke, und wirkt als bloße Simulation noch etwas zäh, wie eine demonstrative Geste auf den Zuschauer hin. Das Material dagegen ist vielfältig. In einem youtube-Clip synchronisiert ein Mann eine Reihe Metronome, bis sie unter seinem strengen, vom Bildrand wie von einer Hutkrempe angeschnittenen Blick brav im Gleichtakt schwingen: „tock-tock-tock-tock-tock-tock-tock- ...“
Borges' Bibliothekare bleiben in ihrer Suche nach Antworten erfolglos, auch wenn sie noch so systematisch vorgehen. Nur selten findet sich im Zeichenwust der Seiten ein Satz, der für die Bibliothekare einen Sinn ergibt. Existiert ein Buch der Bücher, in dem ein höheres Wesen die Quintessenz aller Sprachen zu Papier gebracht hat? Oder ist jede Zeichenfolge am Ende verschlüsselter Sinn vor dem Hintergrund irgendeines vergessenen Codes? Steht alles schon geschrieben, und wird damit jedes Sprechen tautologisch? Borges zeichnet ein Bild der Vergeblichkeit des Projektes, die Welt entziffern zu wollen. Oder vielmehr: Er erzählt davon, wie diese Welt tatsächlich nicht als Fundus von Wahrheiten, sondern als Gewirr von Auslegungen und Erzählungen überhaupt existiert.
Einzig real zu Babel ist die Tätigkeit der Bibliothekare, ihre verschiedenen Strategien der Arbeits- und Recherchepraxis - wenn die einen versuchen, durch Würfeln ihrer Aktivität eine Richtung zu geben, andere dagegen, die Materialmasse zu lichten, indem sie das „Unbedeutende“ aussortieren. Ihr Blick auf die Bücher allein „macht“ wörtlich Sinn, gerade, indem er ihn ständig verfehlt. Er schreibt Geschichten, indem er nach Spuren der einen Geschichte im Sinne von Historie fahndet.
Es ist dieses Lebend-Archiv der Praktiken, für das sich die Choreografin Petra Sabisch interessiert - und zwar so ganz ohne den poetisch-melancholischen Beigeschmack, welcher der Parabel von Jorge Louis Borges 1944 anhaftet. Was wäre denn, würden sich die Bibliothekare der enormen uneingestandenen Produktivität ihrer Tätigkeit bewusst? Was wäre, würden sie die Bücher nicht mehr als Speicher einer universellen Wahrheit, sondern als Raum von Möglichkeiten betrachten - im Dialog mit einem Computer würde man vermutlich sagen: als durch den Anwender modifizierbare Benutzeroberfläche? Was, wenn es weniger um ein unerreichbares, abstraktes Wissen ginge, sondern um das, was im eigenen Tun sichtbar wird? Weniger um das Finden von etwas als um ein Bewusstsein für das Wie?
Act 2: Awakening of the senses or to be in somebody's company or associate with him of her socially (archaic)
„conversation piece“, im Mai 2008 in der Tanzfabrik Berlin zum ersten Mal aufgeführt, stellt einen Werkraum her, der die Materialität des Sprechens und die Textur von Kommunikation re-konstruiert und erfahrbar macht. Interessanter Weise begann Sabischs Recherche 2007 am entgegen gesetzten Ende: als explizit inhaltliche Untersuchung über die Verschiedenheit und die Methodik individueller Arbeitsweisen, die die Choreografin in einem Bühnenformat sichtbar machen, denen sie Gehör verschaffen wollte. Es herrscht in der zeitgenössischen Performance ein hohes Bewusstsein dafür, wie sich innerhalb beispielsweise der choreografischen Praxis das eigene Arbeitsfeld immer neu als Geflecht von politischen, gesellschaftlichen, gruppendynamischen Spannungs- und Hierarchieverhältnissen ausdifferenziert und gewichtet. Aus dieser Perspektive der Bewegung, zumal in ihrer gezielten Be-Arbeitung über das operative Potenzial von Formaten wie horizontal organisierten Arbeitsstrukturen oder open-source-Plattformen, rückt eine zweite Ebene von „Choreografie“ in den Blick - begreift man sie dem eigentlichen Wortsinn nach als das Notieren und sich Abzeichen körperdynamischer Prozesse in Relation zum Raum.
Der Begriff „Diskurs“, so abgegriffen er durch seine inflationäre und oft beliebige Verwendung klingt, beschreibt präzise dieses Ineinandergreifen und Sichverschränken von Handlung und Sprache, Kreation und Reflexion in unterschiedlichsten Aggregatzuständen und Materialien. Sabischs erster Entwurf zum „conversation piece“ bestand, so könnte man sagen, in einem choreografisch manipulierten Diskurs zwischen eingeladenen Künstlerkollegen. Experimentiert wurde mit seiner performativen Dekonstruktion durch gezielte Verschiebungen zwischen den Ebenen Sinn, Klang und Körperlichkeit im wiederholten, immer gleichen Sprachmaterial. Man unterhielt sich auf der Bühne, führte ein Gespräch zum Thema, ausgehend von in der Recherchephase aufgeworfenen Fragen und Diskussionsfeldern.
Die Idee wurde verworfen. Denn allzu leicht mündet das öffentliche Nachdenken über Methoden, Formate und Tools von Kommunikation, Kollaboration und Kreation seinerseits nur wieder in einem weiteren handlichen Band im Bücherregal zu Babel. Als Inhalt und Objekt einer Performance würde die Eins-zu-Eins-Reflexion über Praktiken performativer Arbeit zu einem Schatten ihrer selbst. Die produktorientierten Distributionssysteme des Kunstmarktes, aber auch die besonderen Rahmenbedingungen der Theatersituation sorgen dafür, dass jedes Arbeiten auf der Bühne letztlich in einer neuen Arbeit mündet und jedes Tun mit der Tendenz konfrontiert ist, in seiner eigenen Repräsentation zu erstarrten. Im ersten Akt sickert nur eine Ahnung davon durch, als Frédéric Gies vom Begriff der „togetherness“ aus unvermittelt bei einem Satz von Henry Ford landet: „Coming together is a beginning; keeping together is progress; working together is success.“
Zweiter Akt. Valentina Desideri, Frédéric Gies, Kroot Juurak, Eduard Mont de Palol und Sophia New wenden den Blick von der Projektionsleinwand und verteilen sich im Raum. Das englische Verb „to converse“ hat seine Wurzeln im Lateinischen. „conversare“ bezeichnet einen intersubjektiven Vorgang oder allgemeiner: einen Austausch zwischen mindestens zwei Polen oder Beteiligten. Je nachdem, wie man dieses „Umgang haben“ oder auch „Verkehren mit“ kontextualisiert und einsetzt, bewegt man sich auf der Ebene der verbalen Kommunikation („to have a conversation“) oder der physischen Intimität („to have sexual intercourse with somebody, altertümlicher Ausdruck“). Ein Gespräch führen oder Sex haben.
Es sind die sensorisch-körperlichen Anteile an der Herstellung von sprachlichem Sinn und die Lesbarkeit des Körpers vor dem Hintergrund einer geregelten Struktur zwischenmenschlicher Verhältnisse, die Petra Sabisch und ihr in der Erarbeitungsphase durch Alice Chauchat und Mette Ingvartsen komplettierter Gesprächskreis ausloten. Auf der Ebene von Blicken und Haltungen zuerst verorten sich die Performer in der Fläche, nehmen Abstände wahr, schließlich Augenkontakt auf. Relationen stellen sich her. Man wendet sich einander zu, dreht sich weg, schaut herab, geht dazwischen. Vorweggenommen findet hier statt, was im Herzstück der Aufführung nun verbal entwickelt wird, und zwar mit Hilfe einer einfachen, wirksamen Manipulation.
Zwischen ihre methodische Recherche und deren Be-Arbeitung für die Bühne hat Petra Sabisch einen Filter der Verfremdung geschaltet. Die Konversation, die als Flüstern und Murmeln beginnt und nach einer halben Stunde wieder in die Unhörbarkeit ausfaded, führen die fünf Performer in fünf artifiziellen Pseudo-Sprachen. „Gibberish“ nennt man im Englischen ein „talking, that sounds like speech, but has no actual meaning“. Jeder einzelne bewegt sich in so einem persönlichen Artikulationssystem des sinnvoll klingenden Nonsens. Das Ergebnis ist frappierend. Ohne die Fixiertheit auf die inhaltliche Ebene vorgeblich feststehender Wortbedeutungen bekommen die seltsamen Lautgebäude nicht nur eine plastische Körperlichkeit, es wird deutlich, welche Mischung aus Selbstverständnis und Selbstdarstellung wirkt, wenn jemand etwas be-zeichnet. Im Spielen mit der Tonalität und Stimmführung, der klangvollen Weichheit in der Hinwendung auf den anderen oder dem Stakkato des Widerspruchs. In Fragen, die brüchig und materiell so instabil sind wie der Standpunkt, von dem aus sie sich ergeben. Oder solchen, die nachsetzen, drängen, den Gesprächsraum richten und für sich beanspruchen. Die Musikalität der im Sprechen sich selbst fortschreibenden Kunst-Sprache findet, das hört man bei allen, vor einem Dispositiv der „Muttersprache“ ab und formuliert entweder ein hypothetisches Gegenteil, manchmal eine Variation, selten eine Hommage. Lautbilder des Fremden, Unverständlichen werden aus der Not der Vermeidung der eigenen Sprachkonvention aufgerufen. Sie verraten viel über das Begreifen von Sprache anders als durch ihre Übersetzung, zeigen aber auch, wie verflochten Sinn und Sinnlichkeit in dieser Praxis sind. In Charlie Chaplins Reden auf Tomanisch-Deutsch in „Der große Diktator“ überschneiden sich Klang- und Aussage-Qualität nicht ohne Zynismus: Schnitzel. Sauerkraut. Blitzkrieg.
Act 3: Opening out or to have a conversation
Das Potenzial von „conversation piece“ liegt in diesem Experimentieren mit der physischen Materialität des Sprechens. Dabei sind auch die Performer angewiesen, „Verstehen“ anders zu denken: als „Wie“ und nicht als „Was“. Petra Sabisch schafft einen Raum, der mehr beinhaltet als den anfangs geplanten Runden Künstler-Tisch mit geladenen Gästen. Das „Gibberish“-Sprachspiel legt einen offenen Kanal zum Publikum. Im Bezug auf das Reden ohne Sinn, das auf der Ebene seiner Form und Dynamik eine unaufdringliche, aber unübersehbare choreografische Qualität entfaltet, gibt es den Sprecher und die, die ihm zuhören. Auf und vor der Bühne. Auch wenn kein Zuschauer sich letztlich verbalaktiv am Gespräch beteiligt und „die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, so der eingangs zitierte Text von Kleist, vorerst den Spielern vorbehalten bleibt. Akt 3, der nur aus seiner Ankündigung besteht, ist deshalb mehr als eine hübsche Pointe: „Act 3: The show is over. conversation piece. The bar is open.“ Der Rest ist Reden, Trinken, Socializing im Foyer, die Beteiligten mittendrin. Ein sanfter Übergang in die nicht minder performative Alltagskommunikation. Der Literaturwissenschaftler Peter Szondi schreibt, das Konversationsstück sei ein „Rettungsversuch des Dramas durch die Rettung des Dialogs, der allerdings zu bloßen Konvention wird.“ Zwischen Konvention und Praxis besteht ein wesentlicher Unterschied. In beiden wirken Regeln. Aber im einen Fall werden sie befolgt, im anderen gemacht. So betrachtet, ist „conversation piece“ eines nicht: ein Konversationsstück.