Nach den Landkarten des Körpers

Die praktikablen Tänze des Frédéric Gies

TanzJournal 1 Feb 2008German

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Time goes by so slowly. So singt es Madonna, und die muss es ja wissen. Während die Zeit langsam vergeht und die alterslose Pop-Queen diese Erkenntnis endlos wiederholt, tickt in ihrem Hit „Hung up“ im Hintergrund wie zum Widerspruch eine Uhr laut und schnell. Die Uhr der Geschichte? Wer das Solo „Dance (Praticable)“ von und mit Frédéric Gies, das teilweise mit „Hung up“ unterlegt ist, zum ersten Mal sieht, könnte es für eine Studie über Bewegungsstile im Tanz des 20. Jahrhunderts halten. Dabei liegt die Sache komplizierter.

In Stille trudelt der Tänzer über die leere Bühne. Minutenlang rollt er mit geschlossenen Augen am Boden, durchmisst mit an die Bilder früher Laienchöre erinnernder Ausgelassenheit in Sprüngen die Diagonale. Er rennt im Kreis oder schreitet mit ausgestreckten Armen zielgerichtet gerade Linien ab. Keine dieser Bewegungen sucht die saubere Form. Das beinah clowneske Understatement des hopsenden, konzentrierten Mannes animiert zum Lächeln, und es wirkt doch nicht lächerlich. Tanz erfahrene Betrachter wollen später Cunningham-Technik, dann wieder Phrasen à la Trisha Brown gesehen haben. Auffallend an „Dance (Praticable)“, das Gies seit der Premiere 2006 weiterentwickelt, sind ständige Wechsel in der Bewegungsqualität der einfachen Folgen. Man neigt dazu, sie als Stile zu beschreiben. Doch Frédéric Gies hat ein anderes Referenzsystem: Lymphe, Blut, Skelett, organische Zentren oder zelluläre Prozesse übernehmen die Regie über die Bewegung.

Seit mehreren Jahren arbeitet er mit Body Mind Centering®. Die von Bonnie Bainbridge Cohen entwickelte Methode zielt auf eine Sensibilisierung für anatomische, psychische und physische körperliche Gegebenheiten. BMC® richtet das Augenmerk auf die Fähigkeit, spezifische Aspekte der komplexen Architektur unseres Organismus nicht nur aktivieren, sondern den ganzen Körper als Resonanzraum für sie nutzen zu können. Hier liegt in „Dance“ die primäre Ebene der Gestaltung. Am Blick des Tänzers lässt sich dieser Fokus ablesen. Er ist nach innen gerichtet. Dort, ahnt man, findet die eigentliche Arbeit statt.

Bewegungen ohne äußerliche Referenzen sollen, generiert durch BMC®, entstehen und Veränderungen im Körper nicht aus der Perspektive einer angestrebten Pose, sondern aus seinen eigenen Energiezuständen und -potenzialen erzeugt werden. „You put your attention somewhere in your body. You use what is there. And you give it space to take over“, sagt Gies und nennt BMC® „embodying the maps of the body“. Bezogen auf die Theatersituation bleibt das Ziel der absoluten Referenzlosigkeit selbstverständlich eine Utopie. Die nachträgliche, parasitäre Anlagerung der tanzhistorischen Assoziationen des Publikums ist hierfür ein schönes Indiz. Cunningham war lymph-affin, während Trisha Brown in den Knochen und Gelenken steckt? Die Anklänge an zum ästhetischen Signe gewordene Stile werden auf der Basis ihrer physischen Grundlagen sozusagen absichtslos aus dem Körper herausgeangelt. Sie sind nur ein Effekt, den der Zuschauer im Übersprung namentlich identifizieren möchte.

Körperlich widerspricht der massige Frédéric Gies dem in vielen Zusammenhängen immer noch geltenden Idealbild einer durchtrainierten Tänzerphysiognomie. Dabei hat er beim Ballett begonnen, mit sechs Jahren angesteckt von der älteren Schwester in einer Kleinstadt nahe der deutsch-französischen Grenze. Erst mit Neunzehn entdeckt er zeitgenössische Techniken für sich und wird Tänzer, unter anderem bei Daniel Larrieu und Olivia Grandville. Ab 1998 produziert Gies gemeinsam mit Frédéric de Carlo eigene Stücke, mehrere im neu gegründeten Centre National de la Danse in Paris. Ihr Thema sind Körper, die aus der Norm fallen: motorisch, psychisch, sexuell. 2001 bringen sie in Zusammenarbeit mit der Soziologin Sylvie Tissot und dem Philosophen Pierre Tévanian „En Corps“ heraus. Die Autoren haben gerade ihren „Dictionaire De La Lepénisation Des Esprits“, eine Analyse der Sprache der Diskriminierung veröffentlicht, das auf seine Art dem rechtsradikalen Politiker Jean-Marie Le Pens gewidmet ist. Gies und de Carlos konzentrieren sich auf den Gender-Aspekt. Es ist das Jahr, in dem in Frankreich eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften zugelassen werden, was eine heftige Diskussion auslöst. Sie tragen aus Text-Fundstücken aus der Presse quer durch die politischen Lager vor und spielen mit Elementen aus der Drag-Kultur.

Seit 2004 lebt Frédéric Gies in Berlin. Er arbeitet mit dem Kollektiv Good Work um Isabelle Schad zusammen, so in dessen aktuellem Projekt „Still Lives“. Im Herbst hat „Dance (Praticable)“ auf der Basis einer Partitur als Gruppenstück für zehn Tänzer in den Sophiensaelen Premiere. Geblieben sind in Gies' Arbeit politische Fragen als Antriebskraft. Wie lassen sich in einer Gesellschaft nicht hierarchisch organisierte Räume schaffen? Auch bei BMC, sagt er, ginge es letztlich um eine „Demokratisierung des Körpers“.

In Zusammenhang mit „Dance“ entstand eine Arbeitsstruktur, die Gies' Solo in Klammern im Titel trägt: Praticable. So nennen die Choreographen Gies, Alice Chauchat, Odile Seitz, Frédéric de Carlo und Isabelle Schad ein Format, das dazu dient, individuelle Arbeitspraktiken und künstlerische Recherchen mit den anderen Mitgliedern zu teilen. Andererseits ist Praticable ein Schmuggel-Vehikel. Friedlich, aber unnachgiebig infiltriert es die Hoheit von Kuratoren über das, was in der freien Szene gezeigt oder eben nicht gezeigt wird. Jeder beteiligte Künstler versieht bestimmte seiner Projekte mit dem Label „Praticable“. Wo immer eine solche Produktion gezeigt wird, muss der Veranstalter einwilligen, dass vorher ein zweites Stück, ein Try out oder Exzerpt eines weiteren Praticable-Choreographen zu sehen ist. Ohne, dass er es eingeladen hätte. Das gilt selbst auf der Tanzplattform. Vor dem Auftritt von Frédéric Gies wird Isabelle Schad einen Auszug aus ihrem neuen Solo „Ohne Worte“ zeigen, das sie im April im Hebbel am Ufer herausbringt. Ein bisschen dreist, aber erstaunlich - praktikabel.