Fein-Tuning des Sehens

Die Choreografin Eszter Salamon ist dem Potenzial des Möglichen auf der Spur und hinterfragt gesellschaftliche Kategorien der Festschreibung von Realität: Geschlechterrollen, Tanztradition oder Biografie.

Theater der Zeit 1 Feb 2008German

item doc

Seltsam, dass ausgerechnet ein präzise inszeniertes Dunkel Licht in Ecken und Bereiche unserer Wahrnehmung bringen kann, wo wir im Hellen zur Blindheit für das Wesentliche neigen. Da wäre zum Beispiel die alte Streitfrage, ab welchem Maß an Reglosigkeit Choreografie ihr Anrecht auf den Namen „Tanz“ verliert. „Nvsbl“ von Eszter Salamon, 2006 im Choreografischen Zentrum Pact Zollverein in Essen uraufgeführt, dreht den Spieß um und fragt: Wie nah kann unsere visuelle Wahrnehmung den vielen, vielschichtigen Realitäten im Allgemeinen und denen eines individuellen Körpers im Besonderen überhaupt kommen?

„Nvsbl“ ist ein Feintuning des Sehens. In 80 Minuten schieben sich vier Körper von außen bis in die Mitte der nackten, spärlich beleuchteten Bühne, während die Stille akustisch nur durch 13 vereinzelte Wortbrocken strukturiert wird. Das macht ein Wort auf sechs Minuten. Das Stück und der eine, einzige Satz, den die Choreografin aus dem Off einspricht, enden passend auf „end“: „From the beginning I speak to tell that this is the very end.“ Ein Gang. Ein Satz. In eineinhalb Stunden. „Nvsbl“ („invisible“ mit unsichtbaren Vokalen) setzt seine Dehnung der Dauer wie das gedrosselte Licht dazu ein, den Blick zu schärfen. Die anfangs kaum erkennbaren mimischen und gestischen Bewegungen der Performerinnnen ziehen den Betrachter in einem halluzinatorischen Sog herunter auf ihre mikroskopisch feine Skala ständiger Verschiebungen, die weder „etwas darstellen“ noch als Phrasen in einem choreografischen Bogen funktionieren. Salamon nennt sie „micro-events“. Wann immer man von einer Tänzerin zur anderen schweift, findet man ihren Körper nie so vor, wie man ihn eben verließ, obwohl das Gesamttableau scheinbar still steht. Selbst, wer die Augen fest an eine Ferse heftet, wartet vergeblich auf einen Schritt vorwärts. Dringt man ins Detail, verliert man die Übersicht. Choreographie als großes Gleiten. Nicht Tanz als erbauliche Schrittfolge. Der Eindruck der Langsamkeit weicht beim Zusehen einer unerwarteten Komplexität. Je weiter man sich einlässt, desto feinmaschiger wird das Netz von Ereignissen, das sich in „Nvsbl“ zwischen und in den Körpern aufwirft.

Obwohl sie immer wieder um die Grenze zwischen Repräsentation und Verschwinden kreist, ist Eszter Salamons Arbeit nicht Teil der primär tanzwissenschaftlich geführten Diskussion darüber, wo genau zwischen Authentizität und Phantasma, Unmittelbarkeit und Sich-Entziehen der tanzende Körper sich denn nun bewegt. Salamon ordnet das Feld der Beobachtung aus gesellschaftspolitischem Blickwinkel neu. Sie lässt geschlechtliche, soziale oder ästhetische Erwartungshaltungen, die über die Theatersituation hinausgehen, als solche erkennbar werden und entzerrt fest gefügte Muster von Männlich und Weiblich, Fakt und Fiktion oder eben Sichtbarkeit und Erkenntnis. In „Reproduction“, dem ersten großen Gruppenstück von 2004, tauchten acht androgyne Zwitterkörper in Slow-Motion voll bekleidet in eine Choreografie elegant ausgestalteter Geschlechtsakte ein. Alles waren Frauen, mit einfachen Mitteln wie Perücken oder Bärten bis zu verblüffender Unkenntlichkeit maskiert. Angeregt von Abbildungen aus dem „Kamasutra“ arrangierte Salamon sie zu Variationen gängiger Identifikationsmuster von „sex“ - was im Englischen ja beides bedeutet, Sex und Geschlecht. Die als Mann oder Frau gleichermaßen denkbaren Figuren verselbständigten sich, ohne je als das eine oder andere lesbar zu sein.

Solche Schwebezustände interessieren Eszter Salamon, seit sie sich nach ihrer klassischen Ausbildung an der Budapester Nationalen Tanzakademie gegen das Ballett entschied, man könnte sagen: aus politischen Gründen. Die Arbeit am Schweben auf Spitze wirkte auf die gebürtige Ungarin zutiefst ideologisch, ebenso wie die Pädagogik und das restriktive Körperideal des Konservatoriums. Tanz, vielmehr Choreografie, sagt sie heute, seien als das Einrichten und öffentliche Vorzeigen von Körpern per se immer auch politische Akte.

Zwischen 1992 und 2000 beginnt Salamon ein zweites Mal zu tanzen. In der zeitgenössischen Szene Frankreichs arbeitet sie mit Mathilde Monnier und François Verret. 2001 entsteht „Giszelle“ in Zusammenarbeit mit dem Choreografen Xavier Le Roy für das Festival d'Avignon. So wie das Ballett in Gestalt der „Giselle“, einmal verinnerlicht, untilgbar im Körper der jungen Frau Eszter Salamon steckt, erfährt sich dieser Körper in „Giszelle“ als Container kollektiver Körperbilder, die er zitiert, reproduziert, variiert. Gleichzeitig wird beim Zuschauer ein Spiel mit Versatzstücken seines kulturellen Bildgedächtnisses in Gang gesetzt, in dem Menschen und Idole in Salamons Bewegung umrisshaft als Posen aufscheinen: Marilyn Monroe mit fliegenden Röcken. Christus am Kreuz.

Im selben Jahr hat ihr eigenes Solo „What a body you have honey“ Premiere. Salamon hüllt sich von Kopf bis Fuß in eine Verpackung aus dicken weißen Steppdecken. Sie rollt und windet sich. Ein voluminöser, vierbeiniger Kokon. Oben, unten, hinten, vorne lösen sich auf. Weder ist die Gestalt als Frau noch als Tänzerin erkennbar. Unförmig, geschlechtslos, widerständig, und in der Art, wie sie einem die Orientierung nimmt, faszinierend.

Seit dieser Zeit lebt Eszter Salamon in Berlin und produziert international. Im Fall des aktuellen Stückes „And Then“, das zur Tanzplattform in Hannover eingeladen ist, sind sieben Koproduzenten vom Tanzquartier Wien bis zum Pariser Centre Pompidou beteiligt. Förderungen kamen aus Frankreich, Deutschland und Ungarn. Am Anfang stand eine Recherche über die Etymologie und Herkunft des Namens „Eszter Salamon“, begleitet von der Suche nach Frauen, die ihn tragen. 892 hat Eszter Salamon in Begleitung der Performancetheoretikerin Bojana Cvejic weltweit gefunden und einige von ihnen zu Interviews über ihr Leben getroffen: von der Jugendlichen bis zur Unternehmensberaterin, in Rumänien, Israel, Großbritannien. Auszüge aus solchen Gesprächen sind in „And Then“ zu sehen und zu hören. Dafür wiederholten die befragten Frauen ihre Berichte möglichst wortgetreu für Kamera und Tonband.

Der Effekt der Re-Enactments der eigenen, einmal erzählten Biografie ist befremdlich, weil ihm die Spontaneität des authentischen Fundstücks völlig abhanden kommt. Im Film spielen die Frauen sich selbst, in surrealistisch wirkenden, improvisierten Low-Budget-Settings zwischen Gewächshaus und Sofa-Idyll. Auf der Bühne werden ihre Aussagen von Stellvertreterinnen gesprochen, gesungen, getanzt. Auch das Zusammenspiel der Medien Film, Ton und Live-Performance ist nicht so einmütig wie es scheint. Denn live bewegen Salamon, Cvejic und Aude Lachaise, wenn sie verschiedene Eszter Salamons verkörpern, nur die Lippen. Sie haben sich vorher selbst in der Rolle der anderen mit hohem Aufwand synchronisiert: Ihre Stimmen kommen von einem durchlaufenden Soundtrack, der die komplette Tonspur der Aufführung bis auf die Gesangsnummern enthält. Das Licht wird einmal mehr zum Komplizen. Es sorgt dafür, dass die Grenze zwischen Leinwand und Bühne im Schatten verschwimmt. Anwesende und projizierte Dialogpartner, fiktive und reale Eszter Salamons scheinen sich im selben artifiziellen Raum zu begegnen. „And Then“ wirkt gegenüber früheren Produktionen ungewöhnlich theatral und legt viel Gewicht auf Effekte von beinah illusionistischer Perfektion - was zum Problem werden kann, denn nicht immer sind die technischen Gegebenheiten an Spielorten entsprechend optimal. Und obwohl „And Then“ technisch absolute Perfektion erfordert, ist in der Wirkung die Irritation, das „beinah“ entscheidend. Das Ineinandergreifen von Film, Text, Choreografie ergibt kein Dokumentartheater. Es ist der Begriff des Dokumentarischen selbst, den Salamon und Cvejic durch ihr Spiel mit erzählerischen Ebenen unterlaufen und ihn wie den Begriff der Biografie in Zweifel ziehen. Personen und Geschichten, Doppelgängerinnen und Lebensläufe bilden ein Panorama biografischer Möglichkeiten, die alle ihre Überzeugungskraft, Plausibilität, Zweifelhaftigkeit und fiktionale Schönheit besitzen. Eszter Salamon hat ein Talent zur klärenden Verunsicherung. Und spielt sie mit Mitteln des klassischen Theaters, steht am Ende zwischen Sein und Nichtsein nicht mehr ein „oder“, sondern ein „und“.