Schnappschüsse mit dem Augenlied
Eszter Salamon zeigt "Nvsbl" in der Fabrik Potsdam
Wer sich aufmerksam durch das Material gearbeitet hat, das die fabrik Potsdam zu diesem Gastspiel veröffentlichte, den wundert nicht, dass die Bühne zuerst völlig im Dunkeln bleibt. „Nvsbl“ steht für „Invisible“. Nur, dass die Vokale hier das sind, was der Titel übersetzt bedeutet: „unsichtbar“. Es dauert einen Moment bis das Auge sich an die unerwartete Lichtsituation gewöhnt hat und die aufblendenden Scheinwerfer, die im Theater gewöhnlich den Beginn anzeigen, nicht mehr vermisst. Dann macht es sich von allein auf Wanderschaft zwischen dem Wenigen, was ihm zur Verfügung steht, und es entdeckt, dass dieses Wenige mehr ist als es auf den ersten Blick erkennen konnte.
Schon dieser Anfang lässt erahnen, dass die Choreografin Eszter Salamon vorhat, mit unserer Erwartung unter umgekehrten Vorzeichen zu spielen. Zuerst sieht man sich nur die Bühne selbst, ihre Umrisse, Seitenhänger und die Gerüste der Scheinwerfer an der Decke allmählich wieder aus dem Pechschwarz herausschälen. Kaum wahrnehmbar fällt ein fahler Lichtschein auf die Spielfläche, und darin zeigt sich, dass, einer nach dem anderen, vier Körper bereits auf dem Weg auf die Bühne sind. Ein Arm, ein Fuß, zwei Hände schieben sich ins Blickfeld. Sie werden den ganzen Abend über auf dem Weg bleiben und erst ankommen, wenn die Choreografin vom Tonband aus dem Off das letzte der einzelnen, über das komplette Stück zerpflückten Worte eines Satzes spricht: „End“. Bewegung als Kontinuum, ihre Interpretation dagegen als Festschreibung eines einzelnen Blickwinkels, als Herausgreifen eines Momentes und dessen Übersetzung in eine Bedeutung - das sind die beiden Pole, zwischen denen der Zuschauer in „Nvsbl“ hin und her geschickt wird. Unendlich verlangsamt verschränken die vier Tänzerinnen Mimik und Gestik. So groß ist ihre Körperbeherrschung, dass man, obwohl sie sichtbare Distanzen im Raum zurücklegen, kaum einmal einen Schritt zu Gesicht bekommt. Alles befindet sich in einer ständigen Verschiebung, die der Blick sich in Bilder zurechtschneidet wie einen Film, jedes Blinzeln ein Schnappschuss mit dem Augenlid.
Man liest, überpräsent in den Gesichtern, Emotionen ab: Erstaunen, Freude, Angst, Schrecken, Scham, Belustigung. Aber sind sie wirklich da? Hat man sich erst auf das Anti-Tempo der Choreografie in völliger Stille eingelassen, eröffnet sich ein unüberschaubares Feld von Möglichkeiten, die die Beziehung zwischen Körpern und Gesichtszügen genau so betreffen wie das Verhältnis der Tänzerinnen zueinander und zum Raum. Man sieht immer alles und übersieht genau so viel. „From the beginning I speak to tell, that this is the very end“, lautet der Satz, den Salamons Schlusswort vollendet. Ihre Bewegungslandschaft erinnert an das alte mathematische Paradoxon zwischen Punkt und Linie und dem Verhältnis zwischen beiden: Wie kann eine endliche Distanz (Linie) sich aus unendlich vielen kleinstmöglichen Flächen (Punkt) zusammensetzen, die selbst keine flächige Ausdehnung mehr haben? „Nvsbl“ will und kann natürlich keine Antwort geben, aber es macht die Frage sinnlich erfahrbar.