Gejagt nur von der eigenen Legende

Pina Bausch beendet mit „Rough Cut“ die spielzeiteuropa der Berliner Festspiele

Berliner Morgenpost 25 Jan 2007German

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Der Schriftsteller Victor Hugo nannte die Melancholie „das Vergnügen, traurig zu sein“. Pina Bausch ist eine solche Frohnatur der Tristesse, und man liebt sie dafür. Wer sonst setzt so großformatig und eingängig die Welt als Spielplatz unserer Hoffnungen und Sehnsüchte in Szene? Einmal pro Saison baut die Choreografin Bilderbögen, die das Leben als einen Reigen satter Farben, edler Stoffe und geschmeidiger Körper verhandeln. Sie sind über die Jahre schön und schöner, aber auch immer kulinarischer geworden. Das Thema blieb gleich: das Suchen und Finden der Liebe.

Hinter den formvollendeten Tänzern, die der echte Fan alle beim Vornamen kennt, treten die wechselnden örtlichen Inspirationsquellen, für die das Ensemble von Wuppertal aus mit Unterstützung des Goethe-Instituts immer wieder geschlossen auf Reisen geht, in den Hintergrund. Zwei, drei Wochen dauert so ein Forschungsaufenthalt nach der Bausch-Methode. Im Jahr darauf ist dann Premiere.

Ziel bei „Rough Cut“ war Seoul. In Berlin setzte das Stück, 2005 in Wuppertal uraufgeführt, jetzt den glamourösen Schlusspunkt unter die „spielzeiteuropa“-Saison der Festspiele. Diese Rechnung geht natürlich auf, ganz egal, was auf die Bühne kommt. Wenn die Meisterin ruft, strömen die Massen. Nüchtern betrachtet, ist „Rough Cut“ aber nicht viel mehr als ein gefälliges Divertimento. In Peter Pabsts bekletterbarer Felskulisse reiht sich Minisolo an Minisolo, Bild folgt auf Bild. Kein einziges davon verlässt das bekannte Vokabular der schwingenden Linien, verspielten Armornamente und unverkennbaren Domino-Effekte im Zusammenspiel aus Heben, Ziehen, Werfen.

Marion Citos fließende Roben wechseln sich in rascher Folge ab und ab; dazu irrlichtert die Musik zwischen Pop und asiatischer Folklore. Videos zeigen Wellen oder blühende Bergwiesen. Papierblumen brennen. Federbetten werden geschüttelt wie auch die seidigen Haarteppiche der Damen. Eine Tänzerin weidet sich am mitgebrachten Grasbüschel. Sucht man partout nach dem koreanischen Input, wäre das weniger der China Kohl, in den Rainer Behr einmal gewickelt wird und auch nicht die obligatorische Szene im Badehaus, die es zuletzt im Istanbul-Stück „Nefés“ zu sehen gab. Roh und direkt geschnitten wie der Titel behauptet, sind nur einige Wechsel in Tempo und Dynamik - wohl angeregt durch eine Stadt, die eingespannt ist zwischen beständigem kulturellen Erbe und rasendem technischen Fortschritt.

Die Zeit, als Bauschs Tanztheater zart, aber wütend gegen künstlerisches und gesellschaftliches Establishment anrannte, ist lange vorbei. Zwar sausen in „Rough Cut“ die Tänzer am Ende wild durcheinander, doch es jagt sie niemand außer der eigenen Legende, und sie sind auch hinter nichts mehr her. Als Pina Bausch sich beim Applaus, wie immer ganz in Schwarz und mit gestrengem Haarknoten, zwischen ihren Tänzern feiern lässt, lächelt sie traurig und sieht dabei, auch wie immer, wie ein unmerklich gealtertes Mädchen aus.