Konsequent verschieden

Stil gibt es nur als Denkweise: die dänische Choreografin Mette Ingvartsen

Theater der Zeit 1 Mar 2007German

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Die junge Frau steht mit dem Rücken zur Wand und beobachtet, wie die Zuschauer zu ihren Plätzen gehen. Ein Bein leicht angezogen. Aufmerksam abwartend. Die Position ihrer Füße ist mit Tape markiert wie der Umriss einer vom Tatort entfernten Leiche. Dabei ist Mette Ingvartsen zweifellos lebendig. Sie schaut, sie wartet, und dann tanzt sie. Sie entleert einen ganzen Schwall Bewegungsphrasen auf die kleine Studiobühne wie einen Kasten Bauklötze, mit denen sie Reihen, Haufen, Türmchen zusammenzusetzen beginnt. Alltagsgestik. Ein Rave. Ein Sprint. Eine Ballettfigur. All das ist plötzlich da, als Umriss, Pose, und schon verschwunden.

Es geht weder um Dekonstruktion, noch um Identifizierbarkeit. Ob die pathetisch hoch gestreckte Faust, eines von den wiederholten und sich mit anderen überlagernden Motiven, nun einem Kriegherren, einem Revolutionär oder einem siegreichen Sportler gehört, spielt eine untergeordnete Rolle. Es bleibt gar nicht die Zeit, der eigenen Bildassoziation so lange nachzuhängen, bis sie begrifflich Gestalt annimmt. „Solo negative“ zeigt einen Körper, der sich als Sammelsurium von Informationen, Resten, Ahnungen aktiv erfährt und dabei in enorm hohem Tempo aus eigener Kraft Verknüpfungen, Reibungen und Abstoßreaktionen erzeugt.

Die Zersplitterung des Körpers in und durch Bilder zu artikulieren und wiederum Bilder für diese Zersplitterung zu finden, war eines der zentralen Themen, die den zeitgenössischen Tanz die neunziger Jahre über beschäftigt haben. Doch im Sommer 2003, im Studio des Berliner Podewil, stimmt etwas nicht. Weder legt diese Tänzerin Spuren aus auf dass der Betrachter die Lückenhaftigkeit seiner Wahrnehmung erfahren soll, indem der inszenierte Rahmen diese Lücken anspricht und exemplarisch bearbeitet. Noch scheint die quasi-multiple Persönlichkeit, die hinter dem vielstimmigen physischen „Wortschatz“ stecken muss, sie ernsthaft zu beunruhigen. Stattdessen lässt sie ihn an sich heran und in sich hinein. Sie macht ihn sich zu Nutze wie ein Set von Gymnastikübungen, die sie pragmatisch schnörkellos performt und dabei als Material zu formen beginnt. Wer hier wen füllt oder erfüllt, ist kaum zu beantworten. Wie die Zuschreibungen „fremd“ und „eigen“ ineinander gleiten und etwas Drittes entsteht, hat eine große Selbstverständlichkeit und Stärke.

„Solo negative“ (2002), nur 15 Minuten kurz, war Mette Ingvartsens Eintrittskarte ins choreografische Geschäft. Auch „Manual Focus“ ein Jahr später wurde ein Erfolg. Seitdem ist die gerade 25jährige Choreografin aus Dänemark, die seit ihrer Ausbildung in Brüssel lebt, viel beschäftigt. Im März hat ihre neue Arbeit „Why we love Action“ bei PACT Zollverein in Essen Premiere. Es folgen Auftritte in Utrecht und Berlin. Wie sie zum Tanz kam? „I fell off a horse.“ Bei ihr klingt das beinahe logisch. Die kleine Mette hat zwei ältere Schwestern; die eine nimmt Reit-, die andere Tanzunterricht. Und als sich die Frage stellt: In wessen Fußstapfen treten?, entscheidet ein bockiges Pferd über den Fortgang der Geschichte. HipHop und Streetdance werden für mehrere Jahre ihre Szene. Zielgerichtet sucht sie sich von dort aus ihren Weg: über eine Internatsschule mit Tanzschwerpunkt und ein einjähriges Intermezzo am Modern Dance Department der Hogeschool voor de Kunsten in Amsterdam. Bis sie 2000 bei P.A.R.T.S. akzeptiert wird, dem Studiengang für zeitgenössischen Tanz von Anne Teresa De Keersmaeker.

Zwei Jahre nach ihrem Abschluss ist Mette Ingvartsen eine der erfolgreichsten Absolventinnen. Schon in ihren letzten Semestern tourte sie mit vier Stücken international. Den Grundstein für die schnelle Karriere legte P.A.R.T.S. Die Schule ist bekannt für ihre Professionalität, wenn es um die Vermittlung von Studenten in die Produktions- und Tour-Netzwerke der länderübergreifend verzweigten Infrastruktur in der freien Szene geht. Ein Programm mit Choreografien der Abgänger reist regelmäßig durch Europa. Als Visitenkarte der Institution und, um in Wien, Lissabon oder Marseille zu zeigen, wer und was neu auf den Markt kommt.

Ingvartsen gehört nicht zu denen, die P.A.R.T.S. für diese Strategie zum Teil scharf kritisieren. Trotzdem erinnert sie sich nicht ohne Phantomschmerz an Showings, die einer Shopping Mall glichen. Am Ende überwog für sie aber der persönliche Aha-Effekt: „Du lernst, welche Verantwortung du deiner Arbeit gegenüber hast, und dass du dir klar darüber sein musst: In welche Situation will ich mich und sie bringen?“ Ihre frühe Erfahrung mit Etiketten wie „Shooting Star“, wie man über sie zuletzt wieder beim Wiener Festival ImPulsTanz lesen konnte, führte dazu, dass sie heute sehr genau weiß, was sie will und was nicht. Eine eigene Company gehört vorerst nicht dazu. Festlegungen sind das Einzige, vor denen sich Mette Ingvartsen wirklich scheut.

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Choreografie der Kopulation

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Ungefähr zwanzig Stücke hat sie choreografiert, die Schul-Arbeiten mitgerechnet. Das Erste mit Sechzehn, das war 1996. Da sorgte ein unbekannter Franzose namens Jérôme Bel mit der Inszenierung Jérôme Bel und seinem Entwurf einer Choreografie, die den Wahrnehmungshorizont des Zuschauers als primäre Bühne bespielt, für Kontroversen. Ingvartsen lacht, wenn sie sich an ihren ersten Kunstversuch erinnert. Auf einer dreigeteilten Bühne wies sie den einzelnen Bereichen damals separate Vokabulars zu, vom Paartanz bis zur alltäglichen Bewegungen, und zeigte die verschieden hohen physischen Widerstände beim Durchgang und Wechsel von einem System ins andere.

Heute steht im Kern ihrer Stücke immer noch meistens eine konkrete Versuchsanordnung, innerhalb derer Mechanismen nachweisbar werden, die unseren Blick auf Körper und Handlungen steuern. Der vorwärts und rückwärts, chronologisch und versprengt, in Slow Motion oder Beschleunigungsmodus wiedergegebene, rekonstruierte Ablauf eines Banküberfalls in „Out Of Order“ (2004) stellte die übliche Lesart einer linearen Abfolge von Ereignissen alternativ einer Gleichzeitigkeit von Möglichkeiten und Variationen gegenüber. In der aktuellen Gruppenproduktion „To Come“ (2005) nehmen drei unverbunden nebeneinander gestellte Szenen den Zusammenhang zwischen Begehren, Lust und Befriedigung dreifach anders auseinander.

Alles beginnt mit einer Choreografie der Kopulation. Ingvartsen konzentriert sich auf die Motorik, den sexuellen Akt als Aktion. Eingenäht in komplett geschlossene Anzüge, sind die gesichtslosen Tänzer bis auf als Kontur erkennbare Merkmale von Wuchs und Geschlecht ihrer Individualität beraubt. Leuchtend blau in einem weiß ausgeschlagenen Theaterraum, verdrehen diese Kostüme das Prinzip, mittels dessen man in der Filmtechnik Personen vor beliebig besetzbaren Hintergründen agieren lassen kann. Die Körper wirken wie farbige Löcher, ausgeschnitten aus der Tanzfläche - Blackbox versus Bluebox. Was bleibt, ist ein Stoßen, Kreisen, Vibrieren, Beben in abenteuerlichen Gruppensexkonstellationen, die Ingvartsen auf das Zusammenwirken von Kraft und Gegenkraft, Drängen und Nachgeben hin durchleuchtet. Mittels winziger Manipulationen von Tempo oder Dynamik mutiert die muntere, an erotische Radierzyklen aus dem 18. Jahrhundert erinnernde Geschäftigkeit zum mechanisch ratternden Uhrwerk oder zur brutal verkeilten Wrestling-Formation.

Der zweite Akt besteht aus einem mehrstimmigen Chorsatz. In Alltagskleidung reihen sich die Fünf an der Rampe auf, jeder den Knopf eines MP3-Players im Ohr, und wechseln über zur Tonspur des Geschehens. Präzise und sauber in der Intonation, erntet ihr äußerlich so gut wie reglos vorgebrachtes Stöhnkonzert Lacher und Applaus, nicht zuletzt als perfekt einstudierter musikalischer Vortrag, so artifiziell, clean und anstößig wie eine gehechelte Bachkantate.

In einem dritten Schritt wechselt das Stück dann abrupt die Perspektive: Schluss mit der Analyse und her mit Exzess. Geben Körper im Bewegungsrausch dem Betrachter wirklich mehr zurück? Und wenn ja, worin besteht dieses Mehr? In Bewunderung, Energie, einer Präsenz, die den Tänzer in seiner Aktion aufgehen und verschwinden lässt? Die Swing-Abart „Lindy Hop“, ein Modetanz aus den Roaring Twenties, in den sich das Ensemble wie besessen stürzt, bringt höchsten Lustgewinn. Allerdings nur den Tanzenden. Je länger ihre hemmungslose Verausgabung dauert, desto blickdichter wird die vierte Wand der Bühne. Schlussendlich gibt diese vor Schweiß und Erschöpfung dampfende Euphorie dem Betrachter all seine Erwartungen humorvoll gebrochen zurück.

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Eine neue Gelassenheit

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In der klaren Dreiakt-Struktur von „To come“ wird etwas offensichtlich, was an Stücken von Mette Ingvartsen allgemein auffällt: wie stark sie sich im Einzelnen in der Wahl ihrer Mittel unterscheiden. Von „Solo negative“ mit seinem tänzerischen Zugriff auf den Körper als Speicher und Datenprozessor über das illusionistisch perfekte, fast archaisch anmutende Objekttheater „Manual Focus“ mit seinen Standbildern und Masken bis hin zu dem neuen Projekt, das wieder auf das Kino übergreift. Es geht um Stunts und die Frage, warum wir künstlich erzeugte Situationen genießen, in denen Körper in Gefahr gebracht werden, während der Nervenkitzel des Betrachters zugleich nichts anderes ist als sein bis zur Anspannung gesteigertes Körperbewusstsein. Das Ensemble trainiert mit professionellen Stuntmen. Die Tänzer sollen in der Lage sein, selbst Actioneffekte auf die Bühne zu bringen.

„You have to establish yourself as many things“, sagt Ingvartsen. Jedes Thema erfordert eigenes Material und eine eigene Herangehensweise. Sie muss sich dieses Recht nicht mehr herausnehmen - sie kann es voraussetzen. Schließlich greift sie auf all das zu, was die letzten fünfzehn Jahre so genannter konzeptorientierter Choreografie dem Tanz an Mitteln und Einsichten aufgeschlossen haben. Diese neue Gelassenheit hat dazu geführt, dass manche in der nachwachsenden Generation einen Übergang vom „conceptual“ zum „post-conceptual“ dance erkennen wollen. Abgesehen von dem grundsätzlich fragwürdigen Nutzen solcher Ismen bleibt dann die Frage, wie man die besondere Bedeutung erklären will, die der konzeptuelle Zugriff für Choreografen wie Ingvartsen als Strategie gegenüber einem auf die Wiedererkennbarkeit von Stilen ausgerichteten Tanzkunstmarkt hat. Sie formuliert es so: „Je ähnlicher sich Arbeiten äußerlich sind, desto greifbarer wird man. Konsequenz in der künstlerischen Entwicklung gibt es für mich nur in Form einer Denkweise und nicht als Entscheidung für nur eine Ästhetik.“

Lückenlos wie eine gewissenhafte Laborantin zerlegt Mette Ingvartsen Bilder und Tätigkeiten, kleine, übersichtliche Ausschnitte von Welt, und isoliert ihre Bestandteile. Der choreografische Blickwinkel ist das Lackmuspapier. Ihr Sinn für Timing und Effektivität macht jede von den bisherigen Inszenierungen immer auch zu einer gut durchdachten, sorgfältig ausgetüftelten Show. Es fehlt das existenzielle Gewicht, das dem Streiten um die ästhetische Definitionshoheit über den Begriff „Choreografie“ über Jahre anhaftete. Lieber ködern sie den Zuschauer freundlich mit ihrem Humor.

In „Manual Focus“ (2003) tragen drei nackte Tänzerinnen Männerköpfe in Form von Gummimasken verkehrt herum auf den Hälsen. Stückweise verschieben sich diese Zwitterkörper zueinander im Raum und oszillieren zwischen Subjekt und Objekt. Von putzigen Fabelwesen verwandeln sie sich in Missgeburten und von faszinierenden Hautlandschaften in einen Leichenberg. Auf diesem Weg vom Ding zur Person und zurück provozieren die maskiert entblößten Mannfrauen (ein Jahr vor den schockierenden Bildern aus dem us-amerikanischen Militärgefängnis Abu Ghraib im Irak) Gelächter genau wie Irritation oder Bestürzung. Man sollte sie nicht unterschätzen. Denn obwohl sie so aufgeräumt wirken, lassen sich diese Stücke weder zur einen noch zur anderen Seite hin auflösen. Dazu hat Mette Ingvartsen als choreografisches Chamäleon schon eine zu lange Berufserfahrung.