Mein Tanz, dein Tanz, unser Tanz
Dem Tanzkongress in Berlin stellten vor allem Künstler ein zwiespältiges Zeugnis aus
Der Tanzkongress Deutschland musste scheitern. Weil Großveranstaltungen dieser Art zwingend hinter dem unüberschaubaren Spektrum an Erwartungen, die sie wecken, zurück bleiben. Wesentliche aktuelle Züge, Formen, Felder und Fragestellungen des Tanzes und an den Tanz einzufangen, zumindest anzureißen, war das Ziel. Dazu holte die von der Kulturstiftung des Bundes im Rahmen ihres nationalen Spartenförderprogramms „Tanzplan“ initiierte, konzipierte und finanzierte Veranstaltung eine illustre Auswahl internationaler Referenten nach Berlin, die fachlich einen fraglos vertretbaren Querschnitt darstellte. Doch ist Wesentlichkeit ganz wesentlich eine Frage des Blickwinkels.
Die Blickwinkel der Soziologie und Pädagogik, Politik und Medizin, Tanzwissenschaft und Kunstgeschichte auf Tanz, das zeigte der Kongress im Haus der Kulturen der Welt, sind in den letzten Jahren sowohl zahl- als auch einflussreicher geworden. Sie operieren unter den unterschiedlichsten Vorzeichen. Und sie verfolgen zum Teil gegenläufige Interessen. Den Einen geht es um immer exaktere Protokolle neurologischer Prozesse, die Aufschluss über die spezifischen Bedingungen des Zuschauens im Tanz geben können; dass beim passiven Betrachter aktive motorische Impulse ausgelöst werden, ist heute nachweisbar. Geisteswissenschaftler und Soziologen fasziniert dagegen die Idee einer alternativen Wissenskultur, welche die bestehenden Konzepte von Theorie und Praxis gerade dadurch dynamisiert, dass sie statt von Wahrheit vom Nichtwissen, statt von Erkenntnis von Erfahrung spricht. Wieder andere loben den Tanz als Disziplinarmaßnahme, Steigerung sozialer Kompetenz oder als Antwort auf Pisa.
Lauscht man Vorträgen wie Gabriele Brandstetters „Tanz als Szeno-Grafie des Wissens“, fühlt man sich an die Sehnsüchte erinnert, die den Ausdruckstanz in seinen frühen Jahren aus dem Kunstvakuum Theater heraus auf die Bühne der Gesellschaft drängten. Sie galten und gelten der Anteilnahme an einer sich immer differenter und divergenter auffächernden Realität, die sich der traditionellen akademischen Methodik - damals: von Tanz, heute: von Wissenschaft - fortschreitend entzieht. Begriffe wie Flüchtigkeit, Offenheit, Differenz und Scheitern dominieren gegenwärtig die tanzwissenschaftliche Rede. Wann Tanz, wann Wissenschaft gemeint ist, bleibt sehr oft indifferent. Dafür insistiert man: Die Beschäftigung mit Tanz soll als eine Begegnung der dritten Art die „Verschiebung der Grenze von Wissen und Wissenschaft“ ermöglichen. Es ist zumindest irritierend, dass diese Überzeugung kaum einmal praktisch-methodische Konsequenzen hat. Risikolose Frontalvorträge dominierten den Kongress, und zeigten seinem eigentlich sensibel gewählten Motto „Wissen in Bewegung“ mehr Grenzen auf, als die wenigen offenen Formate wie Hannah Hurtzigs „Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen“ oder Peter Stamers Gesprächslabor im Selbstversuch „Sans Papiers“ unterwandern konnten. Die besonders in der großen Abschlussdiskussion ungewohnt scharfen Zuschauerkommentare machten allerdings deutlich, dass die Tanzwissenschaft, deren Innovationspotenzial man bis jetzt fraglos vorausgesetzt hat, nun wird beweisen müssen, ob sie, so die Hamburger Soziologin Gabriele Klein in ihrer Lecture, zu einer Entmystifizierung oder Wiederverzauberung der Wissenschaften beitragen will.
Es wirkt wie die unfreiwillige Kehrseite des gesteigerten allgemeinen Interesses am Tanz, dass der Blick aus dem Tanz heraus, die Perspektive der Künstler, eher in den Hintergrund trat. So empfanden es jedenfalls Tänzer und Choreografen, die dem Tanzkongress in der besagten Schlussrunde ein zwiespältiges Zeugnis ausstellten. Bedenken, die den Kongress in seiner Eigenschaft als bundespolitische Maßnahme betrafen, waren schon im Vorfeld zu hören gewesen. Damals hielten die von der Bundeskulturstiftung autorisierten Projektleiterinnen Sabine Gehm und Katharina von Wilcke zwar unzählige „hearings“ mit Akteuren der Szene ab, um deren Bedürfnisse und Erwartungen zu erfragen, gaben in der Programmgestaltung außer der wissenschaftlichen Mitarbeit (Pirkko Husemann) aber letztendlich kaum Kompetenzen ab. Dass informeller Austausch eine aktive Teilhabe nicht ersetzt, fiel am Ende auf die Macherinnen zurück. Ein „Kongress von oben“, hieß es, sei der Tanzkongress Deutschland gewesen, und der Ruf nach einem Nachfolger von unten wurde laut.
So schließt sich der Kreis. Die Veranstaltungen in den zwanziger und dreißiger Jahren, in deren Nachfolge sich der Tanzkongress so gerne sehen wollte, hießen nicht umsonst „Tänzerkongresse“. Organisiert und durchgeführt wurden sie von starken, die Tanzlandschaft der Zeit dominierenden Interessengruppen und Einzelkünstlern, die sich damit ein Podium schafften. Sollte es den geforderten Kongress „von unten“, angeschoben durch die Vorlage und die Unzufriedenheiten von Berlin, wirklich geben, wäre sein Hintergrund trotzdem ein anderer. In schwachen Momenten wurde sogar hier wieder die Phrase vom einen, alles beherrschenden und über Gebühr protegierten Einfluss „der Konzeptkunst“ gedroschen. Tatsächlich ist der zeitgenössische Tanz aber viel reicher, zerklüfteter, komplexer und widersprüchlicher in seinen Erscheinungsformen als es manchem lieb ist.