Ketchupflaschenschlachten

"Incarnat" von Lia Rodrigues

Märkische Allgemeine 1 Jun 2006German

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Es riecht nach Tomaten. Schwer und süßlich. Kein Wunder, denn das Blut, das eine Stunde lang vergossen wurde, kam aus der Ketchup-Flasche. Ketchup ist wesentlich dickflüssiger als Theaterblut, das jeder größere Hersteller von Bühnenschminke im Angebot hat. Für eine realistische Darstellung von Mord und Totschlag eignet sich der hellrote Brei eigentlich nicht. Gerade deshalb scheint Lia Rodrigues ihn in „Incarnat“ so verschwenderisch einzusetzen. Ihr Stück wagt sich dorthin, wo es für die Kunst immer heikel wird: auf die Schlachtfelder der Realität.

Wie empfindsam sind wir noch für das Leiden anderer, wo man uns mit Live-Reportagen aus dem Krieg, dem Massaker, dem Katastrophengebiet nur so überschüttet? Versachlichen solche Bilder doch ihren Gegenstand und ermöglichen erst eine Distanz, die wir zu den Szenarien von Gewalt und Tod sonst nie hätten. Wie viel von ihrem Eigenleben verantwortet der Kameramann, was das Sujet und was der spätere Betrachter? Lia Rodrigues macht die Probe am Exempel Theater, das sich heute fragen muss, wie es sich zur Übermacht der Sinn und Bilder stiftenden Medien verhalten will, um nicht seine gesellschaftspolitische Relevanz zu verlieren. Die Choreografin aus Rio de Janeiro antwortet mit Bildern, die denkbar simpel gebaut und gemacht sind. Eben aus Ketchup, Milch, ein wenig rohem Fleisch und Menschen. Diese Bilder wissen, dass sie ihren Gegenstand stets nur behaupten können und dass sie selbst dann auf der Grenze zur Perversion, zur Vermessenheit balancieren. Rodrigues ketchupverschmierte Körper sind ein Witz gegen jede Abendnachrichten. Trotzdem kurbeln sie, wenn sie in einem Plastikbeutel zappeln oder vergeblich nach Luft japsen, die Imagination stärker an als die meisten Stücke einer neueren Theaterdramatik, die den Schrecken „lesbar“ machen, in Psychologie übersetzen. Die Assoziationen, die hier durch wenige Andeutungen und Anknüpfungen an Archaismen des Leidens, losgetreten werden, treffen mit enormer Wucht in die Magengegend. Und hallen sie dort erst wieder, ist dem Betrachter bereits die Verantwortung dafür aufgebürdet zu entscheiden, ob er so etwas ansehen will: so banal, so freigestellt, als Kunstprodukt. Einige Zuschauer flüchten empört aus dem Theater. Man kann sie verstehen. Recht geben mag man ihnen nicht.

„Incarnat“ bedeutet „Fleischwerdung“, und nichts anderes vollzieht sich hier. In gleichsam ritueller Folge treten Einzelne in die Mitte der Bühne. Meist sind sie nackt. Sie treten auf und performen: Erstickung, Kollaps, Weinkrampf, Tod durch Kopfschuss. Der Rest der zehn Tänzer kauert rechts und links am Rand, in legerer Trainingskleidung und mit Handtüchern, Wasserschalen, den Ketchupflaschen und übrigen Requisiten ausgestattet, schaut aufmerksam zu oder wäscht sich sorgfältig vom letzten Auftritt rein. Führen die jeweiligen Solisten nicht gerade ihre knapp skizzierten Blutbad-Miniaturen auf, formalisiert wie eine Thai-Chi-Übung oder pantomimisch jedes Lautes beraubt, brechen sie in energiegeladenen Tanz aus. Schön und schrecklich treten die Gegenstücke in solchen porösen, unkaschierten Momenten von Bruch und Übergang zueinander in Kontrast. Sie zu erzeugen und auszuhalten, ist die enorme Leistung der Tänzer, die immer Tänzer bleiben, straffe, durchtrainierte, junge Körper, auf denen sich manchmal verstohlen ein Bikini-Umiss abzeichnet. Sie kommen nicht aus dem Krieg, sondern vom Strand und aus dem Probenstudio, und sie werden so schnell auch in keinen geraten. Darum weiß „Incarnat“, und daraus entwickelt es bei aller Suggestion seine vielleicht einzig skandalöse Ehrlichkeit. Vorbehaltlos und dabei professionell exakt in der Interpretation liefern sich die Darsteller den für sie komponierten Martern aus. Der Fokus dieser Metamorphose ist ein formaler. Und gerade deshalb machen sie im Endeffekt eine hochemotionale Aussage. Augerechnet die Unglaubwürdigkeit der Mittel - das Ketchuprot, der Tomatengeruch, die demonstrativ offene Anordnung - lässt den Körper in seiner ganzen Verwundbarkeit und Macht aufscheinen. Nur das macht „Incarnat“ erträglich: In letzter Konsequenz hält es mit großer Pietät Abstand vom Grauen und arbeitet wie ein Echoraum nur mit seinem Nachhall.