Der Fachkritiker als boulevardesker Allrounder

Zur Ökonomie des Kritischen

Sarma 23 Apr 2006German

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Contextual note
Gabriele Wittmann has written this statement in the light of Unfolding the critical at Tanzkongress Germany (23 April 2006).

Was brauchen künftige Generationen von Tanzkritikern als Rüstzeug für eine kritische Haltung? Ich bin gebeten worden, auf diesem Podium vor allem meine Position zum Thema "Ausbildung" zur Sprache zu bringen, da ich seit zwei Jahren den neu gegründeten Ausbildungsbereich "Tanzkritik" innerhalb des Studiengangs Theater-, Musiktheater und Tanzkritik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt unterrichte. Ich will mich für diese zehn Minuten beschränken auf folgende These: Künftige Generationen müssen den Spagat bewältigen lernen zwischen Allrounder und Fachspezialisten.

Was gehört zur Ausbildung "Tanzkritik"? Zum einen: Die Reflektion historischer Positionen der Tanzkritik. Hierzu gehört die deutschsprachige, aber beispielsweise auch die amerikanische Linie. Dann: Eine praktische Grundausbildung, die alle journalistischen Darstellungsformen umfasst - damit künftige Kollegen sich innerhalb des Tagesgeschäftes positionieren können, ihre Themen "drehen" und damit überleben können, Handwerk also. Und noch zwei Punkte, die ich wichtiger finde denn je: Eine Reflektion der Produktionsbedingungen der eigenen Arbeit. Und: Eine dem Gegenstand praktisch zuarbeitende, offene Definition des Kritischen, die sich aus ihrem Gegenstand heraus entwickelt - dem Tanz.

Beginnen wir mit dem Thema Produktionsbedingungen: Seit dem 20. Jahrhundert beschäftigen sich Choreografen immer wieder mit ihren Produktionsbedingungen - als Teil ihrer künstlerischen Arbeit. Das sollte die Tanzkritik meiner Meinung nach auch tun. Zu Fragen ist: In welcher Situation befinden sich die Medien in Deutschland heute? Welche Redaktion vertritt welche Blattlinie und welche Ethik gegenüber ihrer Leserschaft und ihren Kritikern, und warum? Was bedeutet es, wenn eine Redaktion die Sendeminuten kürzt und darum bittet, ab jetzt "etwas mehr Boulevard" als Farbe ins Spiel zu bringen? Verweigert man die neue Linie und wandert ab? Oder passt man sich kritiklos an? Oder versucht man, Strategien der Subversion zu entwerfen? Dies ist eine politische Frage, für die man kommende Generationen interessieren muss.

Der kritische Blick: Ist er überhaupt noch zu haben? Dies ist nicht nur ein Problem der Tanzkritik, sondern heutzutage ein Problem für den Journalismus insgesamt. Auf der Jahrestagung der 'deutschen journalisten union' in Berlin im November 2004 ging es um die Frage, ob ein die gesellschaftlichen Phänomene und Veränderungen kritisch begleitender Journalismus überhaupt noch möglich ist, und wie man seinem Verschwinden entgegenwirken kann. Die Medienlandschaft verändert sich rasant, Verlage und Sender tätigen immer weitreichendere Kooperationen oder Ankäufe. Streichungen von Redakteursstellen, Honorardumping, "total buy out" Verträge und Verletzungen des Urheberrechtes sind die Folge. Und immer mehr junge Kollegen drängen in das Berufsfeld und unterwandern die letzten Rechte der Autoren. Diese Kollegen müssen von den ökonomischen Veränderungen in Kenntnis gesetzt werden, damit sie zumindest eine eigene Haltung ausbilden können - und wissen, was sie da tun, wenn sie Texte beispielsweise gratis liefern, wie immer öfter zu hören ist.

Kunst lebt heute zunehmend von crossovers, so wie auch der Kritiker inzwischen leicht die Rollen wechselt, zum Dramaturgen wird, zum Veranstalter, usf. Diese Nähe zwischen Praxis und Theorie ist nichts Schlechtes, es hat sie auch in der Tanzkritik immer schon gegeben. Deborah Jowitt, die Tanzkritikerin der New Yorker Village Voice, hat immer auch selbst als Tänzerin gearbeitet und eigene Stücke produziert; deutsche Tanzkritiker haben zur gleichen Zeit Tanzfestivals initiiert oder kuratiert - was zunächst einmal nichts aussagt über ihre Fähigkeit als Kritiker.

Viel brisanter erscheint mir da die wachsende Spirale zwischen Journalismus und Pressearbeit. Denn wenn Redaktionen kein Geld mehr ausgeben für die Kritik, dann wandern die Kritiker eben ab in die PR. Auf der Tagung "Die neue Effizienzkultur" am Tanzquartier Wien 2003 waren sich namhafte Kuratoren und Intendanten einig: Wenn die Medien durch die fortschreitende Ökonomisierung keine Kritik mehr bringen, dann machen wir sie eben selbst. Anderes Beispiel: Die Initiative "Netzwerk Recherche", die nach Strategien sucht, wie die - immer häufiger von Redaktionen längst nicht mehr bezahlte - Recherche wieder in Mode zu bringen sei, konnte in ihrer letzten Sitzung keine Mehrheit für ein konstitutives Papier finden. Denn die Mitglieder des Vereins mussten sich eingestehen, dass die meisten inzwischen nicht mehr allein vom Journalismus leben können, sondern von der PR abhängen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch im Tanz die Presseabteilungen immer professioneller geworden sind und werden - was grundsätzlich zu begrüßen ist. Die Frage lautet aber dann: Was, wenn keine kritischen Journalisten mehr da sind? Wer recherchiert noch selbst? Wer überprüft die PR-Maschinerie? Gibt es unter diesen sich ökonomisch rasant wechselnden Bedingungen überhaupt noch einen Blick von "außen"? Oder wird nur wieder einmal klarer, dass es den Blick von außen nie gab?

Diese Veränderungen müssen wir diskutieren, zukünftigen Kritikern einen Einblick in diese Prozesse ermöglichen, ihren kritischen Blick auf ihre eigenen Produktionsverhältnisse schüren. Was sie dann als Haltung für sich daraus entwickeln, ist ihre Sache. Aber sie müssen zumindest von diesen Prozessen wissen, um so etwas wie ein Verantwortungsgefühl bilden zu können.

Und ein zweites Feld des Kritischen möchte ich beleuchten, wie es speziell für die Ausbildung in der Tanzkritik wichtig ist. Der Tanz ist in unserer Gesellschaft gerade erst dabei, wieder Fuß zu fassen als möglicherweise relevante gesellschaftliche Kraft. Bald wird Tanz vielleicht in den Schulen gelehrt werden, bislang aber haben Redakteure in der Regel keine Kenntnis dieser Kunstform - und auch viele Kritiker nicht. Ich bin überzeugt davon, dass eine Kenntnis des Materials des Tanzes, nämlich der künstlerische Umgang mit Bewegung, unerlässlich ist für eine fundierte Kritik - dass sie die Basis der gründlichen Wahrnehmung für eine Kritik überhaupt erst ermöglicht.

Ich plädiere deswegen in der Tanzkritik-Ausbildung für ein Training nicht nur des kritischen Geistes, sondern auch für ein Training des Blicks, das tanzspezifische Kenntnisse mit einschließt. Dazu gehören Fragen wie: Welche Tanz- und Körperbewusstseinstechniken gibt es überhaupt, aus welchem historischen Kontext, welchem Blick auf Körper, Kunst und Gesellschaft sind sie entstanden? Dazu gehören alle Gebiete des Tanzes, nicht nur die selbst favorisierten. Deswegen üben die Tanzkritik-Studenten in Frankfurt die journalistischen Genres an Praktikern: Befragen Tänzer, Choreografen und Trainingsleiter zu Umgang, Kriterien und historischen Unterschieden in Bezug auf alignment, Betonung einzelner Gliedmaßen, Körpersysteme usw. Nur dann kann ich erkennen, was ein Choreograf oder Tänzer mit Bewegung macht, wie er mit Möglichkeiten umgeht, welche er nutzt und welche nicht und: Ob das Sinn macht im Gesamtzusammenhang des Werkes. Nur dann kann ich auch Zitate historischer Figuren erkennen - eine Kenntnis, die ein Theater- oder Musikkritiker in den meisten Fällen nicht hat, und die oft genug zu fatalen Fehleinschätzungen führt.

Diesen steten Wechsel zwischen Theorie und praktischem Zugang sehe ich als einen positiven Paradigmenwechsel, der - in England längst Maßstab - in Deutschland parallel auch in der Tanzwissenschaft geschieht. Und das ist eine historische Chance. Vor zehn Jahren hieß es noch in den Reaktionen: Bringt mir bloß keine Studierten, die sind viel zu theoretisch, anspruchsvoll und kompliziert im Denken, und viel zu wenig nah dran "am Volk". Nach der Phase des allgemeinen Abbaus von Fachredaktionen sehe ich heute: Viele Tanzkritiker sind "Studierte", sind auch in Hochschulbezügen angesiedelt, und das freut mich für den Tanz. Und ich stelle fest: Die Redaktionen holen gerne ihre Fachspezialisten - so diese den Spagat schaffen und ihre Leser erreichen können -, nur: Immer mehr Redaktionen zahlen diese Fachkompetenz nicht mehr. Und das ist ein Problem - siehe oben.

Lust und Frust stehen hier also nah beieinander. Wir brauchen "Fachspezialisten", weil Tanz spezifisch gelernt und gelehrt werden kann und muss. Wir brauchen weiterhin die klassische Kritik, damit sie nicht untergeht im Gemengelage sich stets wandelnder Senderstrukturen und Blattlinien, die alle zwei Jahre einer Reform erliegen - und zunehmend einer alles verzehrenden Ökonomie. Wir brauchen aber auch experimentelle Formen, die endlich mit den Spielformen der Kunst aufschließen. Und wir brauchen "Allrounder", die Themen verspielt oder boulevardesk aufziehen können und die selbst entscheiden können, ob und unter welchen Umständen sie das eingehen wollen - oder auch nicht. Schließlich sind wir als Ausbilder auch verantwortlich dafür, den Studenten Handwerkszeug zu liefern, das praktisch und aktuell brauchbar ist und ihnen ein Überleben sichert. Zusammen mit einer kritischen Kenntnis der Produktionsbedingungen sollten sie dann in der Lage sein, den Spagat selbst auszuführen - den Spagat zwischen persönlich erlebten ökonomischen Zwängen und einer eigenen Haltung und Verantwortung gegenüber dem Gegenstand.