Schreiben über Tanzperformance
Biographische Marginalie. – Ich mußte, damals mit 15, unbedingt Zugang zu einem System finden, das Erweiterungen in den deprimierenden Hühnerkäfigen unserer Erziehungsregelwerke versprach. Mein persönliches System wurde Kunst, jedoch nicht die "schöne", sondern die schmutzige, widerborstige, decouvrierende. Hier, ahnte ich, darf auch außerhalb der gängigen Normen gedacht und gehandelt werden. Es war wirklich erleichternd. Ich nehme an, hat mir die Kunst sogar das Leben gerettet hat. Heute schreibe ich, etwas umständlich: "Die Entscheidung, sich, in welcher Form auch immer, mit Kunst zu beschäftigen, ist die Setzung einer komplexen These als Replik auf die übliche Frage nach den Qualitäten der eigenen Existenz innerhalb unserer Gesellschaft."
(Kunst ≠ Kunst) = Kunst. – Affirmative, dekorative, lineare und harmonisierende Anwendungen von Kunst sind im zeitgenössischen gesellschaftlichen Kontext keineswegs unproduktiv. Denn sie leisten als Symptome komplexer kultureller Krisenbilder einer kritisch-analytischen Zivilisationsdiagnostik wertvolle Dienste und dokumentieren oft ganz hervorragend den politischen Zustand einer Gemeinschaft und ihrer Organisation. Ihre Antithese, nennen wir sie "oppositionell-diskursive Kunst", irritiert, wenn sie gelingt, die Wahrnehmung, stört die Autorität des Gewohnten, lockert den erstarrenden Blick und regt den Geist an.
Die Zusammenbrüche erstens des bürgerlichen Bildungskanons und zweitens der sozialistischen Kulturideologie während der 1980er Jahre hinterließen im Westen wie im Osten ein Vakuum, in das neoliberale Pragmatik und spektakelverliebter Konsumismus flossen. Der bürgerliche Kunstbegriff geriet in Europa bereits im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts unter Beschuß. In den 60ern begann sich die Vorstellung vom Künstler als elitärem "Genie" aufzulösen, zwei Jahrzehnte später stand der militaristisch klingende Avantgarde-Begriff zur Disposition.
Konsequenzen: 1.) Das bedeutet, wir stehen zu Beginn eines neuen Jahrhunderts vor einem gewandelten Bild von Kunst, das allerdings immer noch von einem breiten Rahmen reaktionärer Kunstideologie eingegrenzt wird. Gerade diese Ambivalenz stellt eine Herausforderung für alle Beteiligten, welcher ästhetischer Ausrichtung sie auch immer anhängen, dar. 2.) Künstler, Werk und Rezipient sind in ein kompliziertes Kommunikationsvolumen involviert, das erst in seiner Gesamtfunktion "Kunst" als solche sichtbar macht. 3.) Innerhalb von immer vielschichtiger werdenden Existenzbedingungen positioniert sich dieses Kunstsystem als ein durch besondere Rituale bestimmtes ästhetisches Weltvergewisserungs-Instrument, das, wie auch die Wissenschaften und Technologien, seinen Aktionskreis ständig erweitert. 4.) Der globalen konservativen Kunstklientel, die enorme finanzielle Ressourcen in anachronistische, aber repräsentative und systemstützende Sparten wie etwa die Oper pumpt, ist jede Erweiterung des bürgerlichen Kunstbegriffs ein Dorn im Auge.
Kunst & Krieg. – Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dem ästhetischen Muff konservativer Blöcke der Kampf angesagt, doch dieser zog seine Waffen Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus und schoß zurück: alle freien Tendenzen sowie alle demokratischer Offenheit entsprechende, erweiterte Kunst sollte ausgerottet werden. Der Versuch mißlang, doch der kulturelle Schaden war unermeßlich. In den westlichen Nachkriegs-Demokratien wuchs während der vergangenen 50 Jahre ein beachtlicher freier Kunstmarkt mit breiten Mainstreams, zahlreichen Nebenflüssen und – trotz aller Proteste, aufsehenerregender Skandale und aggressiver reaktionärer Verunglimpfungsversuche – scharfen Gegenströmungen. Trotz seiner Vielfalt ist die Kapazität des Kunstmarktes begrenzt: Kunstwerken, die sich über eine gewisse ästhetische Grenze hinaus exponieren, wird die Aufnahme in die Marktdynamik oft erschwert oder verweigert.
Märkte & Medien. – Das internationale und interkulturelle Kommunikationssystem Kunst ist von diversen Kunstmarktsystemen und von nationalen wie lokalen Finanzierungsstrukturen aus öffentlichen und privaten Fördereinrichtungen abhängig. Dabei wird schnell sichtbar: Jegliche Kunstpublizistik ist zwar mitgestaltender Teil dieser Kommunikations- und Marktstruktur, diese ist durch Massenmedien jedoch nur sehr schwer erfaßbar. Umso wichtiger erscheint es, sich darüber klar zu sein, was Kunstpublizistik leisten soll. Die kritische Kommunikation künstlerischer Statements, Persönlichkeiten und Strukturen ist eine heikle und verantwortungsvolle Arbeit. Sie definiert ihre Legitimität vor allem in der potentiellen Meinungspluralität vielfältiger Medienlandschaften.
Demokratie & Freiheit. – Kunst bedient sich ihrer eigenen logischen Systeme, die mit den politischen, wissenschaftlichen und ökonomischen Logiken ihres Umfeldes legitimerweise nur lose verbunden sind. Kunst soll ein Virus sein, der sich in die soziogenetischen Informationsstrukturen der Gesellschaft einnistet und sie bearbeitet, verändert, verdeutlicht. Um dies leisten zu können, muß Kunst möglichst unabhängig sein. Künstlerische Freiheit ist zusammen mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung eines der wichtigsten Merkmale für eine demokratische Ordnung. Wer, aus welchen Motiven auch immer, gegen die Freiheit der Kunst auftritt, argumentiert gegen Demokratie. Eine wichtige Aufgabe der Kunstpublizistik bleibt daher auch, diese Freiheit, die übrigens eine Schwester der Pressefreiheit ist, zu verteidigen.
Künstler, die auf diese Freiheit verzichten und sich politischen, religiösen oder ökonomischen Systemen unterwerfen, hören auch auf, Kunst zu produzieren. Es ist ein Irrtum anzunehmen, daß nationalsozialistische Maler, Musiker oder Schriftsteller Kunst hervorgebracht hätten. Ihre Produkte sind bloß Propagandamaterial und haben daher im Kontext heutiger Kunstauffassungen eigentlich keinen Platz. Ich behaupte auch: Religiöse Musik und Militärmusik haben weniger mit freier Kunst zu tun als vielmehr mit Kompositionen für TV-Werbespots. Und: Bildwerke zur Ausgestaltung von Kirchen stehen Werbeplakaten näher als etwa den freien Kunstwerken eines Marcel Duchamp. Erst in grenzüberschreitenden Verklammerungen können Propaganda, Werbung oder Entertainment diskurshalber wieder an einen erweiterten Kunstkontext angehängt werden. Somit produzieren Künstler, die eigentlich keine Kunstwerke hervorbringen, dennoch Kunst. Kinder machen Kunst. Psychisch Kranke schaffen großartige Kunstwerke. Maschinen fabrizieren Kunst. Sie alle bringen zusammen mit den freien Künstlern Zeugnisse einer parallelen Realität hervor, die zwar mit unserer sozialen Wirklichkeit eng verknüpft ist, aber eine zweite, eine ungeordnete Sozietät widerspiegelt, die sich im Alltag nicht realisieren läßt.
Kunst durch den Körper. – An diesem Punkt treffen wir auf die Tanzperformance. Schon im einfachen Gesellschaftstanz entfernen sich die Körper, von der Musik geleitet, aus der Reglementiertheit des gewöhnlichen Verhaltenskanons. Die Tanzenden begeben sich in ihrem gesamten Habitus auf die Ebene einer Geste des Andersseins. In einer erweiterten Kunstdefinition sind auch die Kids in der Disco Künstler, ebenso wie Turnier- und Showtänzer. Im Tanz, und dies gilt nun für den Kunsttanz im engeren Sinn, produziert der menschliche Körper künstlerische Inhalte live aus sich und mit sich selbst als Werkzeug und Material. Der Körper ist hier nicht bloß Bild wie zum Teil in der Performance Art, sondern eine dicht gewobene Verbindung aus subjektiven und sozialen Prozessen, die sich durch Bewegungen innerhalb definierter Raum-Zeit-Ton-Licht-Strukturen auf das kulturelle Feld projizieren.
Mediale Vermittlung. – Eine Vermittlungsauffassung, die mir am plausibelsten erscheint und die ich daher versuche zu entwickeln, ist die Übersetzung von Ideen der Tanzperformance in ihrem forminhaltlichen und soziokulturellen Kontext in massenkommunikativ nutzbare Texte. Das bedeutet einfach, verstehen und verständlich machen zu lernen, was sich innerhalb der Dynamik Konstruktion–Repräsentation–Perzeption eines Tanzstücks ereignet. Es bedeutet weiters, einen kritischen Blick auszubilden und zu überprüfen, ob einzelne Kunstwerke oder künstlerische Gedankengebäude im Zusammenhang mit der Gesamterscheinung der Kunstform Tanzperformance in Korrespondenz mit anderen Sparten und als Teile des kulturellen und gesellschaftlichen Umfeldes von größerer oder geringerer Relevanz erscheinen. In der Ausformulierung der dabei entstehenden Texte muß auf die publizistischen Usancen der Trägermedien (Zeitungen, Zeitschriften, Magazine, Bücher etc.) möglichst Rücksicht genommen werden, obwohl dies sehr oft zu einer empfindlichen Einschränkung der Vermittlungskapazität eines Autors führt. Wie die nicht selten auch die Kunst, ist wesentlich öfter ihre Vermittlung durch "technische" Grenzen limitiert. Es ist erstens interessant, den Raum innerhalb dieser Grenzen optimal zu besetzen und zweitens, bestehende Limitationen nach Möglichkeit aufzuweichen.
Probleme der Kritik. – Von gesellschaftlich größter Relevanz erscheinen jene Formen innerhalb des Tanzes, die an dessen konventionell vorgegebenen Grenzen aktiv sind. Die Position eines Kritikers wird vor allem dann problematisch, wenn er versucht, willkürlich abgesteckte ästhetische Terrains als Maßstäbe für das Gesamte zu setzen, Traditionssetzungen gegenüber Weiterentwicklungen zu präferieren, sich in sentimentalen Geschmacksurteilen zu baden und Kontextualität zu meiden. Mir ist es wichtig, nicht in diese Fallen zu geraten, sondern mit Nachdruck oppositionell-diskursive Kunst, die sich auch immer wieder erneuert, zur Debatte zu stellen und das Neue mit seinen historischen Vorläufern als Modell für kulturelle Weiterentwicklung in kritischer Reflexion plausibel zu machen. Eine über den direkten Kunstdiskurs hinausgehende weitere Aufgabe für den medialen Vermittler ist auch die Kritik der Institutionen, der Kulturpolitik und des Marktes. Um kritikfähig zu bleiben oder vielmehr, kritikfähiger zu werden, muß jede publizistisch tätige Person sich selbst und ihr Wissen in einem ständigen Lernprozeß vertiefen und erweitern. Sie muß sich innerhalb eines breiten Spektrums von Begehrlichkeiten immer wieder Positionen der Unabhängigkeit, der Nähe und Distanz zugleich, erobern. Sie muß den Sinn des Zeitgeistes von heute verstehen, darf sich aber von diversen Trend-Designern und Hype-Hysterikern nicht überlisten lassen. Schließlich darf ein Kritiker nicht auch Künstler sein wollen. Er sollte aber ab und zu als Kurator arbeiten oder mit Künstlern konzentriert kommunizieren, um Entstehungsprozesse besser zu verstehen und sich mit den Denkweisen jener, deren Arbeit er zu vermitteln hat, intensiv auseinandersetzen zu können.
Schlußfolgerung. – Kunst ist ein offenes System. Kritik muß ebenfalls ein offenes System sein. Ein Kritiker heute ist kein Kunstrichter im alten Sinne mehr, aber als Mitgestalter einer komplexen diskursiven Dynamik trägt er große Verantwortung. Diese Verantwortung zu definieren, die Selbstvergewisserung gegenüber den Künstlern und dem Publikum, ist eine immer wieder herausfordernde Lebensübung. Schreiben über Tanzperformance bedeutet ständige Auseinandersetzung mit Repräsentationen von Alteritäten in einer ephemeren Rezeptionsstruktur. Die Sprache selbst liegt der Kunst, die sie vermitteln soll, näher als wir denken. Es sind die allgemein in Medien verwendbaren Codes, die hier der Kommunikation Grenzen setzen. Wir sollten nicht aufhören, an deren Erweiterung zu arbeiten.