Tanzen ist nicht Schreiben
Zwischen Tanz und Text klafft ein Spalt, den man Tanztheorie nennt - aber wie schreibt sie überhaupt über ihren Gegenstand?
Eines hat mich immer verwundert beim Lesen von Tanzkritiken, tanzwissenschaftlichen Abhandlungen und sogar Gedichten: Es scheint, als ob genau das, was dem Tanz spezifisch ist, in der dort verwendeten Sprache am stärksten fehlt – nämlich das Bewegungsmomentum.
Woran liegt das? Können wir die Schichten von Bewegung wirklich nur durch Laban-Analyse wiedergeben? Muss jeder weitere Übertritt in die Sprache die Bewegung zwangsläufig als Zeichen, Symbol oder rhythmischen Gehalt assimilieren? Wäre es nicht Zeit, zu fragen, ob dieser Glaubenssatz möglicherweise falsch ist, und nur deswegen wirkt, weil er vom herrschenden Diskurs her bestimmt ist?
Auf den Symposien, die in den letzten Jahren in Deutschland zum Tanz veranstaltet worden sind, tritt meines Erachtens immer das gleiche Problem zutage: Sprechen über Tanz scheint nur möglich, indem man auf Diskurse aus anderen Fachdisziplinen zurückgreift. Wer spricht? hatte Julia Kristeva noch im vergangenen Jahrhundert gefragt, und damit auf den geschlechtlich geprägten Diskurs hingewiesen. Es sprechen in der Regel: Männer, in einem logozentristischen Diskurs. Fragt man heute danach: Wer spricht im Tanz? So lautet die Antwort: Es sind meist diejenigen, die einen Diskurs mitbringen aus der Theater- oder Musikwissenschaft, der Literatur- oder Sportwissenschaft. Nicht zu vernachlässigen ist dabei die Frage: Welcher Diskurs ist gerade in Mode?
Zur Zeit scheint es mir der der Philosophie zu sein. Seit Choreografen wie Jérôme Bel die postmodernen Philosophen wie Michel Foucault entdeckt haben, ist Bel der Renner auf allen Festivals. Und der philosophische Zugang zum Tanz en vogue. Das tut dem Tanz einerseits gut, weil es eine gesellschaftlich relevante Diskussion wie die des gesellschaftspolitisch geprägten Körpers in den Tanz einbringt. Andererseits zeigen sich in diesem Denken und Sprechen über Tanz auch schnell Grenzen. Denn gerade, indem Jérôme Bel die Körper und Bewegungen in ihrer Funktion als Zeichen behandelt, stellt sich heraus, dass das, was wir wahrnehmen beim Sehen von Tanz, nicht nur Zeichen sind.
Denn allein die visuelle Wahrnehmung einer Form des Körpers, sprich: seiner Silhouette und ihrer Veränderung in der Zeit, wäre eine Reduktion des Körpers auf seinen Umriss. Ein Schattendasein also, und genau dieses Schattendasein beherrscht gegenwärtige Diskurse im Tanz – und übrigens gegenwärtige Diskurse über Körper im Allgemeinen. Was im Inneren des Körpers vor sich geht – und dazu gehört auch die kinästhetische Wahrnehmung des Tanzenden und des Zuschauers – bleibt ausgespart. Zwei Thesen möchte ich an dieser Stelle bereits vorstellen.
Erstens: Wir alle sind ausgestattet mit einem Bewegungssinn, dessen Empfindungen sehr konkret und präzise sind, und die wir auch präzise erinnern können. Anders gesagt: Ein Bewegungssinn jenseits der Sprache. Zweitens: Wenn wir Bewegungen wahrnehmen, dann wird dieser Bewegungssinn wieder angesprochen und Bewegungsempfindungen wachgerufen.
Diese Thesen müssten das Wahrnehmen und Schreiben über Tanz radikal verändern. Doch die unzähligen, aus der Tanzpraxis heraus erarbeiteten Diskurse über Körpersysteme, wie sie beispielsweise das Body-Mind-Centering hervorgebracht hat, dringen nicht ein in einen allgemeinen, gesellschaftlich verhandelten Diskurs. Oft dringen sie nicht einmal vor bis zu den Ohren der Theoretiker, die auf tanzwissenschaftlichen Tagungen bereits dann abgereist sind, wenn die Praktiker erst zu Sprechen beginnen. Mit dieser Spaltung in Theorie und Praxis aber verspielt die Tanzwissenschaft in Deutschland immer wieder ihre Chance, die Hegemonie patriarchal geprägter Körperdiskurse zu sprengen.
Zu letzteren gehört auch der medizinische, der im Zeitalter der Gen- und Biotechnologie eine große wirtschaftliche und politische Kraft bildet. Man konnte vor zwanzig Jahren beobachten, wie der proportional größte Anteil der Forschungsgelder in die Atomkraft floss statt in regenerative Energien. Und damit eine lange Vorherrschaft der atomar erzeugten Energieversorgung in Gang setzte. Irgendwann war aber auch die Mär von den ausgehenden Lichtern nicht mehr haltbar. Seit etwa zahn Jahren beobachten wir nun einen steten Anstieg der Fördersummen für die Biotechnologie, die unseren Körpern inzwischen eine Möblierung durch embryonales Hirngewebe oder Silizium-Transistoren anbietet. Trotzdem lauschen wir gläubig den Vertretern der Neurotechnologie, die nicht müde werden, ihre gestalterischen Fähigkeiten gegen schlimme Krankheiten und "beschädigte" sensorische Fähigkeiten zu preisen. Und die dabei das, was sich beim aufrecht stehenden Menschenkörper in patriarchal symbolträchtiger Himmelsnähe befindet, in der obersten Chefetage nämlich, durchleuchten. Dass in der Hüftgegend mehr Nervenenden beheimatet sind als im Gehirn, fällt bei dieser Forschung "unten durch". Was diese Nervenenden zusammen mit anderen bewerkstelligen, das erfahren Tanzpraktiker aus der Kontaktimprovisations-Szene seit langem – und zwar kopfüber, längst einer vertikalen Vorherrschaft des Homo Sapiens entronnen, gleichberechtigt in allen drei Dimensionen des Raumes flottierend. Selbst Choreografen wie Wim Vandekeybus, die sich offiziell von der "amerikanischen" Art des New Dance distanzieren, arbeiten mit diesen körperlichen Reaktionen und locken ihre Tänzer bewusst immer wieder in Aufgaben, die so schwierig sind, dass sie das bewusste Denken umgehen – und sich auf Nervenreaktionen verlassen, die so schnell sein müssen, dass sie den Weg zum Gehirn und zurück teilweise gar nicht erst antreten. Diese im Körper gespeicherten Reaktionen sind äußerst präzise, und die Tänzer lernen im täglichen Umgang ständig dazu.
Während der Transponierung in die Sprache jedoch passiert diesem präzisen Bewegungsvorgang ein Malheur. Ihre Begriffe sind scheinbar undeutlich oder mystifizierend, der Wahrnehmung ist scheinbar nicht zu trauen. Mir drängt sich aber immer mehr der Verdacht auf, dass möglicherweise nicht die Wahrnehmung daran Schuld sein müsste – und auch nicht die Sprache. Der herrschende Diskurs ist es, den wir unbewusst reproduzieren und der unser körperliches – und möglicherweise auch unser sprachliches – Denken verhindert, indem er dieses einfach negiert. Und das – paradoxerweise – obwohl wir es täglich erfahren.
Wie ist dieses Paradoxon möglich? Vielleicht deshalb, weil wir unsere durch den Diskurs gespaltene Körperidentität unbewusst kitten, um nicht unter dieser Spaltung zu leiden? Denn in der sprachlichen Diskursivierung von Körperprozessen – und zu diesen gehören auch Bewegung und das Wahrnehmen von Bewegung – hat sich seit langem eine Mystifizierung eingeschlichen, die das Körperinnere in seiner evolutionären Lebendigkeit auszublenden versucht. Zu untersuchen wäre, ob in heutigen Diskursen nicht dieselbe Verdrängung am Werk ist, wenn das am Tanz beteiligte Körperinnere – oberflächlich de-mystifiziert, aber unterschwellig möglicherweise eben doch re-mystifiziert – als "Rest" verhandelt wird. Diese Mystifizierung ist als gesellschaftlicher Mythos möglicherweise deswegen scheinbar undurchdringbar, weil sie als – wie gesagt: nicht gespürte – Dualität mit einer Leerstelle operiert: mit der Leerstelle des ausgeblendeten Körperinneren, das, einmal leer, immer neu durch einen Herrschaftsdiskurs besetzbar ist. Das aber hieße, wir wären über die von Foucault gelieferte Analyse bis heute nicht hinausgekommen. Dabei lehrt der Tanz uns eigentlich anderes.
Auf der – ansonsten hervorragenden – Tagung "Moving Thoughts: Tanzen und Denken" in Leipzig im vergangenen Dezember fanden sich unter anderen Referenten all diejenigen ein, die derzeit die Modeströmung der Philosophie im Tanz vertreten. Allen voran der schwedische Performer und Theoretiker Mårten Spångberg, der sich an André Lepeckis Anlehnung an Derrida anlehnte. Und Spångberg sagte in einem Interview: "Der Körper ist nicht übersetzbar.... Es gibt keinerlei Möglichkeit, den Körper in der Sprache unterzubringen. Wir können jedoch den Körper nur innerhalb der Sprache erinnern – nur innerhalb repräsentativer Setzungen."
Ich würde dieser Äußerung radikal widersprechen. Spätestens seit der Kontaktimprovisation wissen wir, dass es neben dem Tast- und Gleichgewichtssinn so etwas wie den propriozeptiven Sinn gibt – den Bewegungssinn, der uns ständig darüber informiert, wo unsere Körperzellen sich im Verhältnis zueinander und ihrer Ausrichtung im Raum befinden, innerhalb von physikalischen Wandlungsprozessen wie Friktion, Schwerkraft usw. Wir können uns an dieses Bewegungsempfinden im Raum auch erinnern, sprich: es denken, außerhalb der Sprache.
Dieses Denken ist nicht nur geübten Tänzern eigen, sondern jedem Menschen und damit auch jedem Zuschauer von Tanzaufführungen. Das beweist schon allein die Tatsache, dass jeder Mensch sich an Bewegungsempfindungen erinnern kann, die vor allem aus der Kindheit stammen: Fliegen und Fallen, schwerelos sein, sich drehen und der Erde wieder näher kommen, sich stabilisieren. Dafür gibt es unzählige Beispiele: Wenn Erwachsene ein Kind hochwerfen in die Luft und es wieder auffangen. Wenn wir auf einer Schaukel uns hoch in die Lüfte bewegen und das Momentum uns kurz anhält, bevor wir beschleunigt uns dem Fall hingeben. Wenn wir Achterbahn fahren und auch da das Momentum genießen – oder verschmähen, wenn der Fall sich nach dem verzögerten Bevorstehen einlöst in magenumwendende Beschleunigung. Wir verfügen über Erinnerung, die auch – so meine These – abrufbar ist beim Wahrnehmen von Bewegungen auf der Bühne.
Wir nehmen Tanz also nicht nur mit dem Auge wahr, sondern – möglicherweise durch das Auge hindurch - auch mit anderen Sinnen, wie beispielsweise dem Bewegungssinn.
Für diese These gibt es viele weitere Beispiele, die wir aus eigener Anschauung kennen. In Träumen führt uns der Bewegungssinn in Empfindungen, die der Tagwelt verblüffend gleichen. 1993 sah ich eine Inszenierung von Raimund Hoghe, die dieser für den Tänzer Rodolpho Leoni geschaffen hatte. In einer Sequenz bewegt sich Leoni am Ende eines herabhängenden Seiles, an dem er weit in den Raum hinein schaukelt. Diese Schaukelbewegung habe ich in der folgenden Nacht im Traum durchlebt und wiederholt empfunden. Das heißt, wohlgemerkt: nicht nur gesehen, sondern als innere körperliche Bewegung empfunden. Die Fähigkeiten im Traum-Zustand weiten sich sogar noch aus auf Bewegungen, die fremd sein können: Nach einer Aufführung der Gruppe "Danat Danza" mit dem Stück "A Kaspar" erlebte ich im Traum eine Bewegung, die eine der Tänzerinnen ausgeführt hatte. Sie springt nach einigen Drehungen, die sie als Anlauf benutzt, mitten in einer Drehung auf eine etwa ein Meter hohe Drehbühne, die sich in der gleichen Richtung bewegt – und damit die Drehung der Tänzerin noch beschleunigt. Genau diese Beschleunigung habe ich anschließend im Traum erfahren, ohne sie je ausgeführt zu haben. Das bedeutet für mich: Es gibt eine Übertragung zwischen Tänzer und Zuschauer, die durch einen wie auch immer gearteten Wahrnehmungssinn eine Bewegungsempfindung nachzuvollziehen gestattet.
All diese Beobachtungen verleiteten mich zu der Annahme, dass es Schichten unterhalb des Bewusstseins gibt, die Bewegung wahrnehmen und denken können. Und zwar präzise denken – jenseits der Sprache. Wie aber kommt man mit diesen unbewussten oder unter- oder vorbewussten Inhalten in Kontakt? Und wie könnte man sie transponieren in Sprache? Wenn unser Denken auf synästhetischen Fähigkeiten beruht, und darauf deutet heute wieder vieles hin, dann läge in der Sprache möglicherweise viel mehr Kraft, als wir ihr zugestehen. Wir verlassen uns aber zu schnell auf herrschende Diskurse und Erzählungen, beispielsweise die von der heutigen Wissenschaft beglaubigte Anzahl von fünf Sinnen, ohne den kinesthetischen Sinn. Dieser oder jeder weitere wird verdrängt oder mystifiziert – was zwei Seiten derselben Medaille sind, wie oben beschrieben. Wenn wir jedoch die Diskurse und Entdeckungen der Tanzpraxis ernst nähmen, könnte sich möglicherweise eine neue, sinnliche Sprache herausschälen. Eine, die weder verklärt, noch reduziert. Sondern die ihrem Forschungsgegenstand vertraut und aus seinem Denken heraus forscht. Nicht aus ihrem.