Tasten, Blicke, Kontaktpunkte
Eine assoziatieve Kettung über Berührung meines Tanzpartners'
Intro: Meine Finger bewegen sich über die Tastatur des Laptops, dessen Betriebssystem Zeichen auf dem Bildschirm erscheinen lässt, die denen auf der Tastatur entsprechen. Nach und nach erzeugen diese (körperlichen) Berührungen der Finger mit den Tasten einen Text, über dessen Entstehungsweise, das Schreiben, J.-L. Nancy sagt, es „berührt die Körper an gemäß der absoluten Grenze, die den [geistigen] Sinn des Schreibens von der Haut und den Nerven der Körper trennt. Nichts geht über, und eben darin berührt es. (1) Mit anderen Worten: Schreiben ist der Kontaktpunkt zwischen „dem Unkörperlichen des Sinns und diesem oder jenem singulären Körper (2); Schreiben bleibt nicht nur an der Oberfläche sowohl des Sinns, als auch des Körpers, es ist vielmehr selbst Oberfläche. Genau deshalb und nicht etwa, weil es ins Innere fasst und anrührt, kann es berühren. Selbst wenn uns ein Text im Innersten zu packen scheint, ist dies nichts weiter als die Verlegung der Oberfläche an einen anderen Ort. Das Schreibwerkzeug wechselnd, bemühe ich ein Bild Steve Paxtons: Beginne ich mit einem Kugelschreiber am kleinen Finger meiner rechten Hand, eine Linie zu zeichnen, so kann ich den Arm entlangfahren und über Schulter, Hals und Kinn in die Mundhöhle gelangen, um von dort an den Innenwänden der Speiseröhre hinunter zu gleiten und mich dann durch den ganzen Verdauungstrakt zu arbeiten, bis ich schließlich am Schließmuskel vorbei wieder herausgelange und über Hintern, Rücken, Schultern und Arm auf die Hand zurückkomme, wo ich auf dem kleinen Finger die Linie zu einem Parcours schließe. Ich befand mich die ganze Zeit über auf ein und derselben Oberfläche, auch wenn mich mein Kugelschreiber im Innersten berührt haben mag.
Kontakt: Ähnlich, wenn auch im Außen verbleibend, verhält es sich mit dem so genannten Kontaktpunkt bei der Kontaktimprovisation. Auch er wandert in einer Art Parcours über die Haut der beiden Tanzpartner, die in ständiger Berührung miteinander zusammen tanzen. Diese Berührung vereinigt auf den Körper wirkende Kräfte mit Empfindungen, die diese Kräfte im Körper hervorrufen. Dies ermöglicht es, alle Teile beider Körper zu harmonisieren. Der Kontaktpunkt ist dabei grundlegender Fokus für die Bewegung im Duett. Er wird im Tanz zum Text, der von beiden Tänzern gelesen wird, während er sich wie von selbst zu schreiben scheint. Die Oberflächlichkeit der Berührung an der absoluten Grenze der Haut ist bei einer solchen Kontaktimprovisation nicht nur Notwendigkeit, sondern vielmehr Bedingung für den Austausch: erst das Auftauchen von Informationen über Gewichte, Kräfte und Gefühle an der Oberfläche der einen Haut ermöglicht das Lesen und Interpretieren von Bewegungsintentionen und –richtungen mit der Oberfläche der anderen Haut, auch wenn dieses Lesen und Interpretieren noch so schnell und reflexartig von statten geht, wie in der Kontaktimprovisation oft der Fall. Zudem lässt sich beobachten, wie Sinn und Sinnlichkeit zeitweise verschmelzen, und wie Urheberschaft und Rezeption (beides von Bewegungsinformationen) zeitgleich in ein und derselben Person stattfinden können.
Augenblick: Hinter mir höre ich, wie Baumwolle über Baumwolle gleitet. Dann, links neben mir, das stumpfe Geräusch nackter Füße, die auf Holzboden aufsetzen. Ich fühle mich leichter als noch einen Moment zuvor. Während ich darüber nachdenke, wie die Schallwellen mein Trommelfell berühren, gebe ich Gewicht nach rechts in den Körper meines Tanzpartners. Der Kontaktpunkt befindet sich in etwa zwischen meiner rechten Hüfte und seinem Kreuzbein. Mein Partner gibt ebenfalls Gewicht, das ich über meine Beine in den Boden leite. Langsam beginnt der Kontaktpunkt, sich zu bewegen. Ich höre ein Schnaufen und öffne kurz die Augen: Mein Partner, ein kleiner Typ mit kräftigen Schultern und Armen, hat die Augenbrauen tief ins Gesicht gezogen. Als er anfängt mich zu heben, wird mir klar, dass er sich mit seinem Schnaufen genau darauf vorbereitet hat. Selbstmörderisch schließe ich wieder die Augen und merke, wie der Kontaktpunkt von Hüften zu Händen und Brust und Hüften zu Lenden und Schultern springt. Mein Gewicht liegt nun irgendwo zwischen Hals und Oberarm meines untersetzten Partners. Der Boden ist etwa ein Meter sechzig von meinen nun doch wieder geöffneten Augen weggerückt, die in ihren Winkeln eine Armbewegung meines Partners wahrnehmen. Mein Brustkorb nimmt den heran fliegenden Arm an und stützt sich darauf auf, einer Abwärtsbewegung nach vorne zunächst entgehend, die dann jedoch in anderer Richtung stattfindet: indem mein Partner in den Hüften abknickt, gibt er seinem Rücken eine Schräge, die ich hinab gleite, Füße zuerst, den Kopf auf die Seite gedreht. Der Geruch von Weichspüler dringt mir in die Nase. Ich frage mich, wieso meine Mutter nie Weichspüler benutzt hat. Zur gleichen Zeit komme ich auf dem Boden auf und entschließe mich, die Knie zu beugen. Ich gleite noch weiter hinab, bis ich nach einer halben Rechtsdrehung auf dem Boden sitze. Das Gesäß meines Partners folgt dieser Abwärtsbewegung. Er setzt ich auf meine linke Schulter. Direkt vor mir sehe ich ein Stück seiner blauen Trainingshose mit einem verschwommenen weißen Puma drauf, ein Stück weiter weg nehme ich zwei andere Paare wahr. Der Berührungspunkt zwischen mir und meinem Partner wandert nun von meiner Schulter nach vorne, es ergibt sich ein Fall, eine Reibung und schließlich eine Landung in meinem Schoß. Kurz flackert in mir ein brüderlich liebevolles Gefühl auf. Als mein Partner jedoch beginnt in einen Kopfstand zu gehen, muss ich mich beeilen, ihm zu folgen. Schnell stehe ich auf und begebe mich auf alle viere, kurz fliegt ein Fuß an meinem Gesicht vorbei, dann lehne ich mit meiner rechten Hüfte am Bauch meines Tanzpartners. Der wiederum knickt in den Hüften ab, um mit seinem vollen Gewicht auf meinem unteren Rücken zu landen. Wir schauen uns kurz durch meinen rechten Arm hindurch an und grinsen, dann verschwindet er nach oben, rutscht über mein Kreuzbein nach links und kommt mit beiden Füßen zu Boden. In dieser Bewegung schließe ich kurz die Augen, richte mich auf und drehe mich um eine Vierteldrehung nach rechts. Plötzlich verfärbt sich das Schwarz vor meinen Augen in ein Dunkelrot. Ich öffne die Augen und sehe, dass ich nach draußen blicke, Sonne fällt durch die Fenster auf mein Gesicht. Während ich darüber nachdenke, wie das Licht meine (Netz)haut berührt, gebe ich Gewicht nach rechts in den Körper meines Tanzpartners. Der Kontaktpunkt befindet sich in etwa zwischen meiner rechten Hüfte und seinem Kreuzbein. Mein Partner gibt ebenfalls Gewicht, das ich über meine Beine in den Boden leite...
Punkt: Bis zum Ende des Tanzes wird der Kontaktpunkt nicht mehr aufhören sich zu bewegen. Er wird den ganzen Tanz hindurch Informationen über Gewichte, Trägheiten, Fallgeschwindigkeiten, Tragfähigkeiten, aber auch über Gefühle und Emotionen kommunizieren. Die Berührung zwischen mir und meinem Tanzpartner wird uns beide darüber informieren, was wir als nächstes tun können oder sollen, und was der andere von seinem Gefühl mitteilen will. Der eine Tänzer liest gewissermaßen, was der andere durch seine Bewegungen kommuniziert. „Die Lesetätigkeit enthält indes tatsächlich alle Züge einer stillen Produktion: das Überfliegen einer Seite, die Metamorphose des Textes durch das wandernde Auge, Improvisation und Erwartung von Bedeutung, die von einigen Wörtern ausgelöst werden, das Überspringen von Schrifträumen in einem flüchtigen Tanz.(3) Beim gleichzeitigen Lesen und Schreiben während einer Kontaktimprovisation findet eine Unterhaltung zwischen zwei Menschen durch Berührung statt: beide sind je gleichzeitig berührender Text sowie berührter Körper, Schreibender und Lesender, und in solcher Doppelrolle über Kreuz mit einander verflochten.
Bild: Drei Männer in eigenartigen, jedoch hartnäckig Alltäglichkeit behauptenden Kostümen bewegen sich über eine nüchtern ausgeleuchtete, völlig leere Bühne. Hinter sich blickend, wo sie jeweils einen anderen Tänzer entdecken, der seinerseits blickend sich bewegt, stolpern die drei in einen Tanz, der selber stolpert und stottert. Ständig miteinander in Berührung, gehen die drei Tänzer langsam zu Boden und führen dort um einander rollend den gemeinsamen Tanz fort. Hin und wieder stoppen sie, und einer von ihnen hebt den Kopf, um die Lage der Körper kurz zu inspizieren. Dann geht es weiter, ein Durcheinander von Körpern, das sich über die Bühne bewegt, hier und da ein Bein oder einen Arm herausstreckend, immer in leichter Verwunderung darüber, wie ihnen geschieht. Ihre einzelnen Körper geben den jeweils anderen Gewicht, berühren sich an ständig wechselnden Stellen und wühlen sich unter und über einander durch den Bühnenraum. In Tati’esker Manier geraten sie in die eigenartigsten Situationen und staunen über sich selbst, immer in leiser Empathie für sich und die anderen im Raum. In diesem verwunderten Mitgefühl lösen sie sich schließlich von einander, fahren jedoch fort tanzend ihren Tanz zu betrachten. Sie tauschen ihre Kostüme unter einander aus, pusten sich gegenseitig an und richten eigenartige Ansprachen ans Publikum. Schließlich wiederholen sie das Stück im Schnelldurchlauf, stehen am Ende da und warten auf den alles beendenden Applaus. In diesem letzten Moment des Wartens und der Erwartung bringt die Choreographin Martine Pisani ihr Stück „sans“ ein letztes Mal auf den Punkt: Was tun wir hier?
„sans“, heißt es im Programm, basiere allein auf der Anwesenheit der Tänzer. Natürlich wissen es die Choreographin und ihre drei Tänzer besser: indem der Blick des Publikums von diesen Dreien in der letzten Szene zurückgeworfen wird, wird deutlich, dass „sans“ einzig in der Berührung zwischen Akteuren und Zuschauern zustande kommt. Was wir hier tun, ist nichts weiter als Theater: Akteure erzeugen Bilder, und das Publikum schaut dabei zu. „Es ist das Großartige an Bildern, die uns berühren,“ sagt der Filmregisseur Oskar Roehler, „dass wir mit einem Mal spüren, dass alles in uns ist. Sie sind in der Lage, unser Gedächtnis zu aktivieren, das sich so lange in engen Bahnen bewegt hat. (...) Vage tauchen sie [die Erinnerungen], ausgelöst von dem Bild, (...) wieder in unserem Gedächtnis auf und bilden eine Erinnerung, die sich füllt mit einem Augenblick unseres Lebens. ‚Augenblick’ – die Vieldeutigkeit dieses Wortes ist das Wesen des Bildes.(4)
Tasten: In der ersten Szene von „sans“ tanzt einer der Tänzer mit zugehaltenen Augen. Vorsichtig tastet er sich durch den Raum, von Zeit zu Zeit durch die Finger seiner Hand blinzelnd, im Spiel mit der künstlichen Blindheit. Dieses Spiel wird oft auch in Kontaktimprovisationsklassen gespielt: zu Anfang bewegt man sich mit geschlossenen Augen rollend über den Boden – eine Einstimmung auf den Tastsinn der Epidermis. Bei Blinden ist der Tastsinn, neben dem Hören, wichtigster Sinn, in der Welt zu sein. Für sie ist die Berührung des Schreibens körperliche Tatsache: der in das Papier gestanzte Text der Blindenschrift wird von dem Lesenden mit den Fingern ertastet, die ein von dem Franzosen L. Braille erfundenes System dechiffrieren, wie es die Augen bei Sehenden mit gedruckten Buchstaben machen. Dieser Prozess nicht sehender Sinnerzeugung mag als Sinnbild dienen für jede Art von Berührung: Im Tasten eröffnen sich Texte in ihrer Sinnhaftigkeit. Dabei ist es unerheblich, mit welcher Haut diese Texte ertastet werden, Epidermis, Netzhaut oder Trommelfell, und auch, auf welche Art die Texte produziert werden, Tanzen, Schreiben oder Sprechen. Wichtig sind vielmehr die Verschränkungen von Lesendem und Schreibendem, Berührtem und Berührendem. Der menschliche Körper manifestiert sich immer als beides zugleich, den Händen von M.C. Escher nicht unähnlich, die sich – wenn auch nicht mit Kugelschreibern, sondern mit Bleistiften – in unauflöslicher Verschränkung gegenseitig zeichnen.
(1) nach J.-L. Nancy Corpus, zitiert nach Stefan Nowotny in seinem Text Touche
(2) ebd.
(3) Michel de Certeau Kunst des Handelns
(4)Oskar RoehlerDie Unberührbare