Mnemonic Nonstop ausgraben

Ballettanz 1 Aug 2005German

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Seit Anfang dieses Jahres arbeiten Jochen Roller und ich gemeinsam an dem Duett menmonic nonstop. Dafür untersuchen wir die Anatomien von vier Städten – Berlin, Tel Aviv, Brüssel und Zagreb. Wir begeben uns auf choreographische Erkundungstouren und erstellen anschließend Karten: Straßenverläufe werden assoziiert mit Gedanken, Begegnungen simultan verzeichnet, Beobachtungen vermerkt und Overheadfolien gefertigt. Dabei wenden wir eine Methode an, die als Dérive bekannt ist. Dies ist eine Form des individuellen Kartographierens von psychogeographisch markanten Orten in einer Stadt und wurde in den 50er Jahren des 20. Jhdts. von Mitgliedern der Situationisten entwickelt, um Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen des Individuums im Kontext von städtischen Planungsmustern zu erforschen.

Es folgt ein Text des Vortrages Archäologie als choreographisches Konzept am Beispiel von mnemonic nonstop, den wir im Rahmen des durch die Mary-Wigman-Gesellschaft ausgerichteten Symposiums Tanzkonzepte/Tankonzept auf Kampnagel, Hamburg, am 11.6.2005 gehalten haben:

Beim Besuch der Grabeskirche in Jerusalem orientieren wir uns mithilfe einer Karte aus dem Reisführer „Heiliges Land“. Darin sind alle Glaubensrichtungen, von koptisch über armensich bishin zu orthodox und lateinsich, in ihren jeweiligen Abschnitten im Kirchengebäude mit unterschiedlichen Farben verzeichnet. Das Kirchengebäude ist also eigentlich mehrere Kirchen. Auf der Felskuppe Golgatha gebaut, ist die Kirche mehrfach um- und ausgebaut worden. Kleinere Kapellen wurden mit größeren Kirchen umbaut, so dass sie plötzlich in einem Innenraum stehen, Gebäude wurden an-, Säle eingebaut und Geschosse gefertigt; z.B. wurde für den Kreuzigungsort Jesu ein Mezzanin eingezogen, so dass sich die Felskuppe unter einer Glasplatte in der Kapelle auf dieser Zwischenetage befindet. Wenn man möchte, kann man seine Hand durch ein Loch im Glas stecken und den Fels berühren. Geht man von diesem Mezzanin wieder ins Erdgeschoss und um den zentral gelagerten orthodoxen Teil herum, passiert man mehrere Kapellen der unterschiedlichen Glaubensrichtungen, bis man treppabwärts zunächst zur armenischen Kirche und dann, noch ein Stockwerk tiefer, in eine katholische Marienkapelle kommt. Das Grab Jesu wiederum befindet sich treppauf auf der anderen Seite vor der orthodoxen und neben der lateinsichen Kirche in einer kleinen Kapelle, in die insgesamt vielleicht vier Menschen hineinpassen. Sie befindet sich unter einer riesigen Kuppel, an deren Rund sich im Erdgeschoss die Sanktuarien der einzelnen Religionen anschließen. Jesus ist sozusagen umzingelt.

Schichten und Ge-schichten christlichen Glaubens lagern hier und schieben sich über-, unter- und ineinander und formen so architektonische Verwerfungen und Handlungsweisen, wie z.B. die mehrfach täglich stattfindende Beweihräucherung der Grabeskapelle durch Vertreter aller christlichen Glaubensrichtungen. Die Legenden um Jesu Leidensweg haben (das vermeintliche) Golgatha und das daneben liegende (vermeintliche) Grab zu einem im psychogeographischen Sinn geladenen gemacht, der viele zu einem, wenn auch nur touristischen, Besuch verleitet.

Archäologisch nachgewiesen ist dabei keiner der durch die Kirchmauern eingefassten Plätze. Ob ein solcher Nachweis sinnvoll wäre, sei dahingestellt. Im Zusammenhang dieses Textes interessieren eher die übereinander liegenden und ineinander geschobenen Schichten und deren Wahrnehmung innerhalb bestimmter Kontexte; Aspekte, mit denen sich die Archäologie im weitesten Sinne auch beschäftigt.

Archäologie ist eine Geisteswissenschaft, die sich hauptsächlich für den Menschen interessiert. Sie bedient sich bei ihren Untersuchungen diverser anderer Wissenschaften wie z.B. der Geologie, der Medizin oder der Physik. Ihr Ziel ist die Rekonstruktion vergangenen Alltags und vergangener Kultur. Ihre Quellen sind sowohl Gegenstände wie z.B. Tonkrüge, als auch Schriftquellen in Form von Keilschriften, Hieroglyphen u.ä. Diese Quellen werden als Funde bezeichnet, während ein zu untersuchender Ort in seiner Gesamtheit als Befund bezeichnet wird, z.B. eine Abfallgrube oder ein Grab. Solche Befunde werden in Ausgrabungen untersucht, die immer ihre, wenn auch kontrollierte, Zerstörung darstellen. Dabei spielt wissenschaftlich zuverlässige Dokumentation nicht allein aufgrund des Verlustes durch diese Zerstörung eine wichtige Rolle.

An diesem Punkt wird deutlich, dass Archäologie für unsere Arbeit nicht als grundlegendes choreographisches Konzept funktioniert, sondern als Metapher, mit der die Arbeit beschrieben werden kann.

In der Archäologie unterscheidet man z.B. zwischen Forschungs-, Not- und Rettungsgrabungen. Erstere sind normale Grabungen an Befunden, die intakt sind und in Ruhe ausgegraben werden können. Notgrabungen sind solche, bei denen ein intakter Befund unter Zeitdruck untersucht werden muss, da er z.B. während eines Tiefgaragenbaus gefunden wurde, der bald fortgesetzt werden soll. Rettungsgrabungen schließlich sind Grabungen unter Zeitdruck an teilweise schon zerstörten Befunden.

Betrachtet man die Städte, die wir untersuchen, als Befunde, so machen wir eigentlich nur Rettungsgrabungen. Auch wenn die Stadtarchitektur intakt ist, und wir ohne großen Zeitdruck ans Werk gehen, untersuchen wir doch hauptsächlich alltägliche Handlungen und Gesten. Und diese sind durch ihre Abläufe in Zeit und auch im Raum, zumindest für Passanten, wie wir es im Prozess zu mnemonic nonstop sind, immer schon vergangen und erscheinen damit zwar nicht zerstört, aber doch fragmentiert. Was wir ausgraben, sind dann unsere Erinnerungen an diese Gesten aus dem Grab oder der Abfallgrube unseres Gedächtnisses. Was wir freizulegen versuchen, sind rote Fäden oder auch Routinen, d.h. also Routen, mit denen die Bewohner durch die Städte navigieren. Dass wir dabei selber navigieren und Routen zurücklegen, macht uns, zusammen mit dem Graben im eigenen mentalen wie körperlichen Gedächtnis, zu einer Art Metaarchäologen, Geisteswissenschaftlern unseres eigenen Geistes mit seinen körperlichen Sinneseindrücken.

Im Verlauf der Arbeit an den verschiedenen Orten sammeln wir dabei nicht nur Objekte von der Straße auf, machen Fotos davon, notieren uns das Auffällige oder auch Belanglose und prägen uns einzelne Handlungen der Stadtbewohner ein. Wir sind vielmehr damit beschäftigt, Schichten von Erfahrungen im Körper und im Gedächtnis anzulagern, die wir dann im Probenraum wieder abtragen, um so das Material für mnemonic nonstop zu finden. Wir gehen dabei ähnlich vor wie Archäologen, die Schicht um Schicht abtragen, um so Geschichte anhand von gefundenen Dokumenten und Objekten zu bilden.

Allerdings, und hier wird die Metapher brüchig, gibt es zwei wichtige Unterschiede zwischen der Arbeit zu mnemonic nonstop und die der Archäologen. Zum einen lagern wir, wie oben erwähnt, die abzutragenden Erfahrungsschichten selber an, während die Archäologie Schichten vorfindet, die sie dann freilegt, um Transparenz zu erreichen. Was zum zweiten Unterschied führt: Die Stratifikation in mnemonic nonstop ist transparent. Zum einen sind die im Gedächtnis und im Körper eingelagerten Erfahrungen in der Lage, als erinnerte Bilder und Gefühle gleichzeitig, übereinander gelagert oder ineinander geschoben, in Erscheinung zu treten. Es handelt sich um bewegliche Schichten mit oszillierenden Rändern. Zum anderen dokumentieren wir unsere Routen auf Karten, auf denen die zurückgelegten Wege markiert werden. Anschließend werden Karte und Weg getrennt auf Folien kopiert. Diese transparente Stratifikation erlaubt es, Folien in neuen Kombinationen aufeinander zu legen. Die so entstehenden Divergenzen zwischen den Folien erzeugen weitere Brüche, in denen die Geschichten und Tänze zu mnemonic nonstop geschrieben werden.

Mit Dank an Jochen Roller

mnemonic nonstop ist ein Auftragswerk des Steirischen Herbst, Graz, in Koproduktion mit Klapstuk # 12, Leuven. Gefördert durch den Fonds Darstellende Künste und unterstützt durch Suzanne Dellal Centre, Tel Aviv, Mimecentrum, Berlin, und EkS-scena, Zagreb.