Ist der zeitgenössische Tanz noch zu retten?

Drei unbeantwortete Briefe von Martin Nachbar and Wiebke Huester

Tanznetz 1 Jan 2005German

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Contextual note
This text was first published on www.tanznetz.de in January 2005. The text is part of a discussion around dance criticism in Berlin.
Sehr geehrte Frau Hüster,

in Ihrem Beitrag "Ist der zeitgenössische Tanz noch zu retten?" für das Deutschland Radio arbeiten Sie mit allerlei Unterstellungen, die mehr oder weniger auf die Aussage münden: Zeitgenössische Choreographen interessieren sich nicht für Tanzgeschichte, waren bzw. sind schlechte Tänzer und deshalb auch schlechte Choreographen, weshalb es Ihnen so schlecht geht.

Ich kann Ihnen versichern, dass es mir als zeitgenössischer Choreograph im Moment beruflich sehr gut geht. Ich habe keinen Grund, anderen die Schuld an meiner Lage zu geben, wie Sie mir und meinen Kollegen unterstellen, sondern kann stolz sein auf meine Leistungen des letzten Jahres - als Tänzer, Choreograph und Kurator. Außerdem interessiere ich mich für die Arbeit meiner Kollegen an den Stadttheatern und bin nicht für deren Abschaffung. Dass Sie von alldem nichts wissen, muss daran liegen, dass Sie schlecht recherchieren.

Was Sie übrigens wunderschön selber durch die Abschlussbemerkung Ihres Radiobeitrages belegen: Forsythe und De Keersmaeker waren vor ihrer Karriere als Choreographen Tänzer, das ist bekannt. Aber waren sie gute Tänzer? Und Jan Fabre? Hat der überhaupt je selbst getanzt?

Liebe Frau Hüster, vielleicht versuchen es die freien Tanzjournalisten in Deutschland erst einmal mit vernünftigem und auf recherchierten Fakten basierendem Journalismus? Dann ist ein Dialog vielleicht möglich.

Mit freundlichen Grüßen,
Martin Nachbar

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18. Januar 2005

Dass Frau Hüster nicht anworten würde, war klar. Ihr Interesse ist ja eben nicht der differenzierende Dialog, in dem Meinung gegen Meinung abgewogen wird, sondern vor allem, ihre Meinung als objektives Faktum darzustellen.

Dagegen ist Frau Nehrings Manuskript erfreulich differenziert. Mich interessiert allerdings, wieso die Tanznacht als "gefloppt" bezeichnet wird.

Gerade die Tanznacht ist doch eine Veranstaltung, die nicht zeitgeistig ausgrenzt, sondern versucht, möglichst die ganze Bandbreite des Berliner Tanzschaffens zu zeigen. Dass sie das in einer Nacht machen will, ist vielleicht ein wenig problematisch. Aber die vielfach geäußerte Enttäuschung von Kritikern und Veranstaltern nach der Tanznacht rührt wohl eher daher, dass sie nicht diese von Frau Nehring kritisierte Meinungsführerschaft (wieder) erkannt haben. Oder?


Martin Nachbar

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20. Januar 2005

Liebe Nina Hümpel [Redakteurin von Tanznetz.de],

ja, mein letzter Beitrag war scharf. Und Sie haben Recht, vielleicht hatte Frau Hüster noch nicht nachgeguckt.

Mein erhitztes Gemüt rührt daher, dass Frau Hüsters Unterstellungen an den zeitgenössischen Tanz, dem ich mich zurechne, nicht unerheblich sind, auch wenn es sich bei ihrem Beitrag "nur" um eine Glosse handelt.

Ich verstehe einfach nicht, warum sie immer wieder in dieser Schärfe gegen ein Genre vorgehen muss, aus dessen ästhetischen Erkenntnissen sich auch ein Forsythe oder eine De Keersmaeker bedienen. Die von Frau Hüster dem zeitgenössichem Tanz vorgeworfenen Grabenbildungen werden von ihr durch Beiträge wie den hier diskutierten doch nur verschärft. Womit sich natürlich die Frage ergibt, wer denn nun diese Gräben eigentlich aushebt?

Mir sind die Beweggründe von Frau Hüster nicht klar. Möchte Sie nun, dass mehr Dialog stattfindet? Oder will sie einfach nur, dass die zeitgenössichen Choreographen endlich wieder anfangen, "richtig" zu tanzen? Oder trägt sie eine persönliche Fehde aus, mit der der zeitgenössiche Tanz nur bedingt zu tun hat?

Mit freundlichen Grüßen und Dank für die Vermittlung,

Martin Nachbar

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21. Januar 2005

Ich fände es toll, wenn Frau Hüster antworten würde. Deshalb entschuldige ich mich hiermit für den scharfen Ton und die Unterstellungen und will versuchen so sachlich wie möglich zu bleiben. Zunächst ein paar Fragen: Woran macht sich die ästhetische Flaute im zeitegenössischen Tanz fest? Gibt es Beispiele (nicht unbedingt namentlich) für das beschriebene Lamento, in dem alle die Schuld an dieser Flaute haben, nur nicht die Künstler? Einfach um den Radiobeitrag von Frau Hüster besser zu verstehen.

Zum Begriff „freie Szene“, der im Transkript des Radiobeitrages in Anführungsstrichen und als Zitat erscheint: Er ist vielen Akteuren der „freien Szene“, mich eingeschlossen, selbst ein Dorn im Auge, da er nicht die Stiuation beschreibt, in der wir arbeiten – weder finanziell, noch ästhetisch. Das ist kein Lamento, eher die Beschreibung des Alltags, den die Akteure an den Stadttheatern ebenfalls kennen, nur dort in Form institutioneller Zwänge.

Zum Abstellen von Rembrandt-Bildern ins Depot: Bezieht sich das auf den Schwanensee oder die Uraufführungen von Trisha Brown, Susanne Linke oder Jerôme Bel? Wie auch immer, ich finde es wichtig, mir klassische Ballette auf der Bühne angucken zu können (auch wenn ich es selten mache), wie ich mir auch einen Rembrandt im Museum angucken kann. Das ist ja gar nicht die Frage. Die Frage ist vielmehr, ob das, was fürs Ballett sinnvoll ist, nämlich der Versuch, alte Bühnenstücke zu konservieren bzw. wiederzubeleben, auch für den zeitgenössischen Tanz sinnvoll ist?

D.h. die Tanzdebatte verläuft durchaus nicht an der von Frau Hüster gezogenen Linie zwischen alt und neu, sondern findet innerhalb von Kontexten statt mit ihren jeweiligen Eigenheiten und Anforderungen. Wobei die Kontexte durchaus verzahnt sind oder werden – z.B. Martin Stiefermann, TRAVA und das Ballett Vorpommern, neuerdings William Forsythe, Susanne Linke etc. Frau Hüster wird sich da besser auskennen als ich.

Zur Frage, was das für Künstler seien, deren Einfallslosigkeit ausgerechnet ihrer guten Infrastruktur und Vernetzung anzulasten sein soll: Das würde mich auch mal interessieren. Wer hat denn da was gesagt? Mir ist kein Kollege aus der „freien Szene“ bekannt, der sich auf die von Frau Hüster beschriebene Weise äußert... Aber ich lasse mich gerne eines besseren belehren.

Von der Abschaffung bestehender Strukturen in Deutschland hat übrigens noch nie jemand geredet, höchstens von Umdenken und Umstrukturieren, was interessanterweise jetzt, da es an Geld für die großen Kompanien an Stadttheatern und Opernhäusern mangelt, immer stärker diskutiert wird. Aber mit dieser Diskussion hat die „freie Szene“ wenn überhaupt doch nur am Rande zu tun.

Dass die Unabhängigkeit des Tanzes gefährlich ist, ist unbestritten. Aber vielleicht ist das ja gerade das Interessante am zeitgenössichen Tanz – sein Gefährlichkeit? Bisher konnte ich jedenfalls von meiner gefährlichen Arbeit leben, auch ohne Operetten zu choreographieren (wobei ich nichts dagegen hätte, so etwas mal zu machen; nur werde ich nicht gefragt). Es bleibt die Frage, für wen es letztendlich gefährlich werden könnte.

Zur Konzept-Kunst: Meine Konzepte sind bisher noch nicht von einem theaterwissenschaftlichen Seminar entworfen worden. Mir ist auch kein Kollege bekannt, bei dem das so wäre. Ist natürlich nur ein rhethorische Figur, die Frau Hüster da einsetzt. Aber ich finde, das ist ein Niveau, auf dem ich meine Arbeit und die meiner Kollegen nicht diskutieren will.

Zur Tanzgeschichte und ihren Beweisen: Ja, Forsythe war und ist ein guter Tänzer, ebenso Pina Bausch, Susanne Linke, Reinhild Hoffmann, Trisha Brown. Aber ist das nun ein notwendiger Beweis oder nur ein hinreichender? Zur Erinnerung: Jan Fabre war kein Tänzer, und Maurice Béjart sagt von sich, dass er kein guter Tänzer war. Aber vielleicht sind das in Frau Hüsters Augen keine guten Choreographen? Dann allerdings hätten wir die Sachebene verlassen und wären wir in der Rubrik Geschmack gelandet. Und über den kann man bekanntermaßen nicht streiten.


Martin Nachbar