Jenseits der Berührung
Philipp Gehmacher mit "Incubator" im Berliner Hebbel am Ufer
In einem breiten, kahlen Raum stehen verstreut zwei Männer und zwei Frauen, alle in sich selbst gekehrt. Mit ihren Armen tasten sie den Raum um ihren Körper herum ab, langsam und mit der Konzentration der Untersuchung, als ob sie die Leere und die Abwesenheit rundherum kartieren würden. Regelmäßig folgt eine plötzliche, verkrampfte Bewegung, in der Erinnerungen hochkommen, die sich nicht restlos integrieren lassen. Wie lange können Körper die Erinnerung an eine Berührung festhalten?
Gleichartige Armbewegungen kehren bei den vier Tänzern zurück, doch sie gerinnen nie zu einer eindeutigen, abstrakten Form, genau weil Menschen und Körper nie abstrakt sind und weil die Melancholie und das Unvermögen zur Kommunikation im Weg sind. Genau dort findet sich ein Schlüssel zu Gehmachers formalem Expressionismus in Incubator, das beständig existentielle Fragen stellt, ohne sich dabei irgendwelcher Narration zu bedienen. Allein in ihrer widerborstigen Haltung erzählen diese Körper unheimlich viel.
Die minimale Landschaft aus Armbewegungen und kurzen Raumwegen transformiert nicht allein durch aufkommende Erinnerungen. Die Tänzer suchen auch Annäherung, halten sich in der Nähe der anderen auf oder berühren sich gegenseitig, beharrlich und beinah mechanisch, eher brutal als intim. Ist dies dann der Kontakt, auf den die Armbewegungen verweisen? In manchen Momenten fühlt sich ein Tänzer angezogen vom plumpen Körper eines der Lautsprecher, die im Raum liegen, verlässt seine vertikale Position und legt sich dann hin. Können Objekte menschliche Nähe ersetzen?
Als ein Tänzer plötzlich aufhört und zur Musikanlage geht, kippt das Zeitraumgefüge des Geschehens komplett. Ist es möglich, aus dieser angespannten Lage herauszutreten? Wo beginnt und endet das Theater? Und dann erklingt genauso unerwartet ein Song von Johnny Cash oder Beth Gibbons oder ein Stück Dialog aus John Cassavetes' Woman under the influence: Fragmente, die eine andere Welt hereinbringen und Incubator mit neuen Bedeutungen und Affekten aufladen.
Incubator ist eine Vorstellungsreihe, die Philipp Gehmacher und co. auf der Basis eines gemeinsamen Schatzes an Fragen und Material in vier Etappen (re)kreieren. Das Besondere an der Berliner Version ist ihre improvisierte Form, die sich mit den Unsicherheiten trifft, die die Körper auf der Bühne verfolgen. So teilt der Zuschauer nolens volens das Risiko einer Vorstellung und einer Bedeutungswelt, die auseinander zu fallen drohen. Es gibt kein sicheres, dramaturgisches Fangnetz.
Das gilt auch vor die Mitarbeiter des Projekts. Die Tänzer setzen durch ihre aktive Beteiligung die Autorschaft von Philipp Gehmacher ständig unter Spannung. Die traumwandlerische Annäherung durch Sabina Holzer, der theatrale Ernst von David Subal und die Bewegende Nüchternheit von Clara Cornil verbinden Gehmachers bekannte Ästhetik und sein Bewegungsmaterial mit ihren persönlichen mentalen Räumen.
Durch Erinnerungen, Musik, das Involvieren des Zuschauers und die Entscheidungsmarge der Tänzer macht Incubator seinen Titel wahr. Die Problematik der (unmöglichen) Begegnung springt immer aus dem regulären Theaterrahmen heraus und spricht auf der Suche nach Bedeutung mehrere Zeiträume an. Incubator öffnet so auch neue Spuren für Gehmachers Œuvre, während es die vertrauten Fragen mit großer Klarheit und Formbewusstsein auf die Bretter bringt.