Von der Macht des Tanzes, der keiner sein will
Tom Plischke/BDC zeigen "Re(SORT)"
Seit geraumer Zeit kann man bei Choreographen ein wiedererwachtes Interesse am Spiel mit dem Publikum beobachten. Für „Endless House“ plazierte William Forsythe in der vergangenen Spielzeit die Zuschauer auf eine sich dynamisch wandelnde Bühne. Dabei überließ er es jedem selbst, sich aus den vielfältigen Eindrücken mosaikartig ein eigenes Stück zusammenzusetzen. Meg Stuart schickt in ihrem Großprojekt „Highway 101“ das Publikum auf eine Reise von Stadt zu Stadt, von Station zu Station, und inszeniert damit ein unheimliches Spiel der Perspektiven und Blicke, die auch das Thema ihrer Arbeit sind. In der Offenheit der Theatersituation potenzieren sich die Möglichkeiten der Begegnung zwischen Akteuren und Zuschauern, stellen sich neue und andere Verbindlichkeiten her, die vielen Künstlern heute in der frontalen Guckkastensituation abhanden gekommen zu sein scheinen. Schließlich spielt sich unser Alltag immer mehr vor der trennenden Mattscheibe ab, die Erfahrungen nur simuliert. Was also vordergründig aussieht wie eine Rückkehr zu den Experimenten der sechziger und siebziger Jahre, steht heute deshalb unter einem anderen Vorzeichen. Die Desillusionierung der Zuschauer speist sich längst nicht mehr allein aus einem aufklärerischen, kritischen Impetus. Jenseits der Illusion setzt eine erneute Verzauberung der Welt ein, die aus einem alten Lehrstück ein zeitgemäßes Prunkstück macht, das mit dem historischen Wissen, der Intelligenz und der Lust des Publikums spielt..
Auch Tom Plischkes neue Produktion „Re(Sort)“, die jetzt im Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm uraufgeführt wurde, inszeniert das Publikum. Der junge Tänzer und Choreograph, von Presse und Veranstaltern zur Zeit hoch gehandelt, untersucht in seinem dritten Ensemblestück mit der Gruppe B.D.C. die Verbindung der Tanz- und Theatermittel untereinander. Plischke arbeitet dabei mit dramatischen Texten, Filmen und Tanzstücken, die wie Zitate funktionieren und ihren eigenen Kontext, ihre eigene Zeit mittransportieren. Im Laufe des gut 90 minütigen Abends gehen sie mit anderen Materialien neue Verbindungen ein und ändern dabei ihre ursprüngliche Stoßrichtung. Die Selbstreflexion der Mittel ist auf allen Ebenen Thema. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Plischke für „Re(Sort)“ auf drei Ikonen der selbstbewußten Neo-Avantgarde zurückgreift: Jean-Luc Godards Film „Le mépris“, Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ und Trisha Browns programmatische Selbstbefragung des Tanzes, „Accumulation“ aus dem Jahr 1973.
Eine Schauspielerin mit rotem Cowboyhut (Swantje Henke) begrüßt das Publikum noch im Foyer, wo sich alle sieben in weißen Hosen und T-Shirts gekleidete Tänzer-Darsteller in Reih und Glied aufgestellt haben. Während im Hintergrund Godards Vorspann zu „Le mépris“ uns mit der Farbskala und dem Inventar des Films bekannt macht, bewegt sich Henke durchs Publikum und spricht schnell und nüchtern den Anfang von Handkes Text ins Mikrophon. Nach diesem Vorspiel vor dem Theater werden wir in den Theaterraum geführt, einen weißen Kubus, der einem Ausstellungsraum gleicht (Bühne: Arnold Frühwald und Bernard Sissan). Zwei erhöhte Bühnen aus Sperrholz gliedern ihn. Ein Film zeigt einen Passanten, der mit schwingenden Armen eine Straße hinunter läuft. Aufnahmen der Tänzer (Eva Maria Hoerster, Alice Chauchat, Martin Nachbar, Hendrik Laevens, Mårten Spångberg und Nadia Schnock) werden eingeblendet. Darin erzählt jeder seine eigene Geschichte über Mann, wovon jede ebenso unentscheidbar wahr oder falsch sein könnte. Die Tänzer greifen die Armbewegung des Mannes auf. Sie wandern durch die Zuschauer hindurch und flüstern ihnen kleine Anweisungen ins Ohr, die sie zu Mitspielern machen. Sie erklimmen eine Bühne und führen das Prinzip der „Accumulations“ vor, Sequenzen durch funktionale Addition von einzelnen Bewegungen herzustellen. Sie schieben die Hüften nach vorne, reiben ihre Hände kreisend über ihre Becken und beugen ihre Oberkörper kurz nach vorne. Eine Auswärtsdrehung des Beines und des Körpers kommt hinzu; die Arme werden verschränkt, bis die denkbar einfach Sequenz immer komplexer wird.
Hendrik Laevens trägt rosafarbene Hasenohren auf dem Kopf und flüstert erregt ein paar Sätze über das Töten eines Hasen in ein Mikrophon. Kostüm und Text stellen sich ebenso wie Swantje Henkes Hut wenig später als Zitate aus Harmony Korines Film „Gummo“ heraus, in dem drei Kinder auf einem Schrottplatz nicht gerade zimperlich Cowboy spielen. Unter den verschärften Bedingungen unserer Medienwelt ist jede ausgeführte Geste immer schon zitiert. Godards Farben tauchen den Raum in rotes, blaues und gelbes Licht. Martin Nachbar gießt eine rote Flüssigkeit in eine Plastikschale auf einem Overheadprojektor, nur um kurz darauf aus Buchstabennudeln das Wort „Red“ zu legen. Daraus entsteht wenig später „The Sea“, wozu Brigitte Bardot als Meerjungfrau im Hintergrund verführerisch in die Kamera blinzelt. In „Re(sort)“ ist alles genau das, was es ist. Und doch viel mehr.
Als Peter Handkes Anti-Theaterstück „Publikumsbeschimpfung“ 1966 im Frankfurter Theater am Turm uraufgeführt wurde, war es noch ein Skandal. Die Aufhebung der Rampe und die Aufmerksamkeitslenkung auf das Publikum selbst – all das sind Elemente des Textes, die Plischke geradezu werktreu umsetzt, ohne dadurch im veränderten heutigen Umfeld noch großartig Verstörung auszulösen. Nicht mehr die Negation bürgerlicher Theaterkonventionen kann hier also im Vordergrund stehen. Plischke greift vielmehr das Wissen des Textes um seine eigene Theatralität auf, stellt sie durch die Wiederholungen einer computergenerierten Stimme und durch Auslassungen von Worten zusätzlich aus und verwandelt das Anti-Drama so in Theater. Ähnlich ergehrt es Trisha Browns minimalistischen Bewegungssequenzen. Einst entwickelt, um den Zwängen der musikalischen Tanzkomposition zu entkommen, werden sie hier in ein Geflecht von musikalisch auskomponierten Beziehungen überführt.
Nun, so kann man zu Recht einwenden, borgt sich aber jedes Kunstwerk sein Material aus den Erfahrungen und Eindrücken der Wirklichkeit. Es entfernt sie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang und schafft dafür einen neuen Rahmen: den der Kunst. Insofern ist Tom Plischkes Fragestellung weder sonderlich neu noch führt sie zu aufregenden neuen Einsichten. Trotzdem gelingt ihm ein schöner Tanz- und Theaterabend. Tom Plischke versteht es, Bilder zu inszenieren, die aufgrund ihrer Skurrilität und ihrem Witz im Gedächtnis bleiben. Er erzeugt Stimmungen aus einem dicht gewobenen Netz von Materialien und Bezügen, die das Publikum gefangen nehmen. Am Eindringlichsten gelingt ihm die erneute Verzauberung der Welt paradoxerweise durch die Verfahrensweisen des anti-illusionistischen Theaters in der Szene, in der das Publikum leicht und beschwingt einen Walzer rund um die Bühne tanzen muß, während die Tänzer in der Mitte in Gegenrichtung Hebungen und Drehungen ausführen. Das ist eine großartige ausgelassene Szene, ohne jeden Anflug von Peinlichkeit, den ein solches „Mitmachtheater“ in der Regel auslöst. Sie zeugt von der Kraft des Tanzes, auch dann noch (oder vielleicht gerade da), wo er Anti-Tanz sein will.