Körper in Zeitlupe
Der Putz ist ab. Mörtel bröckelt von den hohen Wänden des Theatersaals in Hellerau, der einstigen Gartenstadt, in der vor dem Ersten Weltkrieg Arbeit, Kunst und Leben eine neue produktive Synthese eingehen sollten. Zum Auftakt das Festivals Theater der Welt 96 in Dresden hatte der bildmächtige slowenische Regisseur Tomas Pandur mit seinem Breitwandkinospektakel "Babylon" die Besonderheiten dieses historischen Raums einfach verdeckt. Bei VA Wölfl und seiner Gruppe Neuer Tanz treten die Wunden der Zeit jetzt offen zu Tage.
Zusammen mit seiner Partnerin Wanda Golonka hat der Schüler von Oskar Kokoschka und Otto Steinert in den letzten zehn Jahren abseits aller modischen Anbiederungen konsequent und kompromißlos das Zusammenspiel von Raum, Klang, Licht und Bewegung erkundet und damit die abgesteckten Grenzen von Tanz und Theater häufig in Richtung bildender Kunst verlassen. Mit ihrer klaren Trennung der am choreographischen Prozeß beteiligten Zeichensysteme stehen die Arbeiten der Gruppe, die seit 1989 im Düsseldorfer Schloß Benrath probt und aufführt, unübersehbar in der Tradition jener Theatermoderne, die mit Hellerau eines ihrer wichtigsten Symbole fand. Daß ihr neuestes Stück "xyz - Bewegtes Opfer", für das zum ersten Mal VA W”lfl alleine veantwortlich zeichnet, zum Abschluß des Festivals ausgerechnet hier uraufgeführt wurde, entbehrt daher nicht einer gewissen Konsequenz.
In Heinrich Tessenows 1912 eingeweihtem Festspielhaus, wo einst Adolphe Appias helle Lichtwände Furore machten, herrscht zunächst Dunkelheit als wolle VA Wölfl, der Fotokünstler, am Ende des Jahrhunderts noch einmal ein Negativ von den Reformbewegungen erstellen mit denen das Jahrhundert begann. Aus der Ferne erklingen Pianoetüden. An zwei Ballettstangen, parallel auf Linie gestellt, exerzieren je vier Tänzer und Tänzerinnen Grundpositionen. An ihren Händen und Beinen sind Taschenlampen befestigt, deren Lichtstrahlen das Dunkel steil aufsteigend oder flach in der Horizontalen durchschneiden. Das Licht streift dabei wie zufällig Piktogramme an den Wänden, primitive Höhlenmalerein - ein Reiter, ein Fußball, die Olympischen Ringe, Flugzeuge - aus der Zeit nach 1945, als die russische Armee den Saal als Sporthalle benutzte. Bereits in Stücken wie "Leitz" und "Räumen" hatten Golonka und Wölfl alle Schattierungen der Dunkelheit beleuchtet und mit Körpern Miniaturräume gebaut, die unmittelbar an die Bewegung der Tänzer gebunden waren. Denn für Neuer Tanz ist der künstlerische Raum nichts Gegebenes, keine dekorierte Hohlform zur Positionierung von Tänzern. Der Raum ist ein dynamisches Prinzip, das von Licht und Bewegung freigesetzt wird und sich von Minute zu Minute verändert.
Dazu genügt Wölfl die denkbar einfache Konstruktion eines riesigen Bilderrahmens aus Metall. An einer Schiene befestigt, vermag er entweder vollständig zur linken Seite gedreht zu werden oder in verschiedenen diagonalen Zwischenpositionen zu verharren. Je nach Grad der Drehung dehnt sich der Raum hinter ihm in dem Maße, wie sich der Raum vor ihm zusammenzieht. In diesem variationsfähigen Grundschema, das überwiegend auf dem rechten Winkel basiert, führt Wölfl die Tänzer in karierten Sakkos und Hosen, die ihnen ihr Bewegungsmuster regelrecht auf den Leib schneidern, in manchmal vielleicht zu starren Formationen über die Bühne. Zu sechst schlendern, stampfen oder gehen sie von hinten nach vorne, von links nach rechts, bleiben an der Rückwand stehen, schmiegen sich ihr schutzsuchend in Opferhaltung an, drippeln auf der Stelle mit Basketbällen bis der Rhythmus langsam verebbt und etwas Neues beginnt. Immer in Reihe variieren sie alltägliche Bewegungsfolgen, steigern sie rhythmisch und verfremden wiedererkennbare Gesten wie das Zeigen mit ausgestrecktem Finger durch gegenläufige Haltungen, die den Körper in prekäre Kippositionen bringen. Dazwischen gerinnen einzelne Soli und Duos immer wieder zu intensiven zeitlupenhaften Bildern als gehörten sie einem anderen Raum- Zeitschema an.
Jenseits des Metallrahmens, der die Bewegungen der Tänzer immer wieder neu perspektiviert, steht eine einzelne Tänzerin. Außerhalb der Bühnenabgrenzung, seitlich nach links versetzt, erzeugt sie ein kleineres Rechteck, das den Bühnenraum öffnet und um die Achse des Bildrahmens dreht. Wölfl probiert und verwirft darin völlig unprätentiös und mit leiser Ironie kurze Bewegungsskizzen, bis ein ganzes Kaleidoskop von Möglichkeiten, Mustern und Formen entsteht, die analog zum Prinzip des Raums im Moment ihres Entstehens bereits wieder vergehen. Er erweist sich dabei als Maler in der dritten Dimension, als ein dreidimensionaler Konstruktivist,der die planen Flächen und Rechtecke geometrischer Bildkompositionen in zeitlich ausgedehnte Wahrnehmungsräume überführt. Dem Zuschauer wird dabei einiges an Aufmerksamkeit, manchmal auch an Geduld abverlangt, was aber durch die spielerische Leichtigkeit, die die Konkretheit der Bewegungsfolgen umgibt, nicht schwer fallen sollte.
"xyz - Bewegtes Opfer" wird nach der Dresdner Uraufführung auf Tournee gehen. Dabei werden sicher einige der vielfältigen Assoziationen, die sich durch den Gedächtnisraum Hellerau, in dem sich ein Stück Theater- mit einem Stück deutscher Geschichte fast greifbar überlagert, verloren gehen. Die starke Struktur der Aufführung sollte dem dennoch Stand halten.
Die Produktion entstand im Rahmen des mit 270.000 Mark dotierten 1. Deutschen Produzentenpreises für Choreographie, der letzes Jahr auf Initiative des Frankfurter Mousonturms ins Leben gerufen wurde, um herausragende freie Tanz-Kompanien qualitativ zu fördern. Nach der de facto Schließung des Theaters am Turm ist nun auch die Existenz des Mousonturms bedroht, womit das zweite international wichtige und angesehene Haus, das sich um innovative Produktionsbedingungen und schlanke Strukturen bemüht, einer planlosen Kulturpolitk zum Opfer fiele. "xyz - Bewegtes Opfer" ist der künstlerische Beweis dafür, daß das nicht geschehen darf.