Die Kunst des Wissens

Vera Mantero, Benoît Lachambre & Andrew de L. Harwood und Lynda Gaudreau sind Meister des künstlerischen Fragens.

Der Standard 1 Jul 2002German

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Contextual note
First published in the Impulstanz Special of Der Standard, july 2002

Die “Welt des Forschens, Entdeckens und Wissens" ist ein romantisches Stereotyp, das uns zuweilen ein wenig erregt, weil wir darin das Charisma unserer Kultur spüren. Die großen Formeln Wissen, Bildung und Intellekt werden gerne vorgetragen, wenn jemand Kompetenz zeigen will. Für den Kunstvermittler ist auch immer die Hinterbühne der künstlerischen Schaffens von Bedeutung. Er behandelt die Kunst als Feld seines Forschens, Entdeckens und Wissens und nutzt dieses romantische Stereotyp, in das wir eintauchen sollen, damit wir das Charisma unserer Kultur auch begreifen können. Aber die Kunst selbst ist bereits ein Forschungsfeld, in dem Künstlerinnen und Künstler ein Wissen vermitteln. Es zeigt unsere “Welt des Forschens, Entdeckens und Wissens" aus Blickwinkeln, die unsere Wahrnehmungsgewohnheiten unterlaufen, weil diese und ihre Kontexte bereits mitthematisiert sind.

In diesem Sinn ist die portugiesische Choreografin und Tänzerin Vera Mantero eine stets Wißbegierige auf den Kommunikationsfeldern unseres kulturellen Wissens. Sie untersucht faktisches, künstlerisches und menschliches Wissen, das sie in ihren Arbeiten in ganz besonderer ästhetischer Formulierung reflektiert. Ihre solistische Stücke wie Perhaps she can dance first and think afterwards, Olímpia und one mysterious Thing, said e. e. cummings machen dies besonders deutlich: Mantero zitiert darin Motive von Samuel Beckett, Édouard Manet, Jean Dubuffet und dem amerikanischen Dichter E. E. Cummings. Ein weiblicher Lucky, eine schwankende Olympia und eine Joséphine Baker in Ziegenhufstiefeln erweitern und schärfen unsere Blicke auf den Körper in seiner tänzerischen Performance.

Benoît Lachambre und Andrew de L. Harwood zählen zu den wichtigsten Tanzschaffenden in Kanada. Sie thematisieren in ihrem Improvisationsprojekt Not to know die Unvorhersehbarkeit des Augenblicks, der immer schrille oder flüsterleise Überraschungen bereit hält. Tanzimprovisationen sind, seit sie sich neben strikt vorgeplanten Stücken als eigenständige Performancekunst etabliert haben, sehr oft Forschungen über das Unwägbare, das Unstrukturierte, die selbstgenerierende Choreografie des Lebens. Mit Lachambre und Harwood werden sich Mark Tompkins, Jennifer Lacey, Mia Lawrence und Frans Poelstra in das surreal anmutende Set von Nadia Lauro begeben, im Lichtraum von Jean Javin musikalisch begleitet von Guy Yarden und Hahn Rowe.

Ebenfalls aus Kanada stammt Lynda Gaudreau, die seit Jahren die intellektuelle Atmosphäre im Tanz auslotet, das Wissen dieser Kunstform systematisch in ein enzyklopädisches Projekt einfließen läßt, dessen bis dato vorletzter Teil nun bei impulstanz zu sehen ist: “document 2". In einer früheren Arbeit, Still Life N° 1, seziert Gaudreau den menschlichen Körper mit künstlerischen Mitteln. Ihr Ausgangspunkt ist die Anatomie, ihr Forschungsziel der menschliche Körper in seinen individuellen, sozialen und kulturellen Kontexten. In document 2 sind choreografische Details von Vincent Dunoyer und Thomas Hauert, Videoausschnitte von Thierry de Mey und Gaudreau sowie ein Interview von Johannes Odenthal in ein musikalisches System aus Schönberg, Bach und Cage eingepaßt. Es ist eine enorm wichtige Arbeit, die Künstler wie Mantero, Lachambre, Harwood und Gaudreau leisten, weil sie immer wieder aus künstlerischen Perspektiven unsere Erkenntnisstrategien hinterfragen.