Die Tänzerin als Femme de Lettres.
Vera Manteros drei solistische Hauptwerke
Eigentlich ist die portugiesische Choreografin Vera Mantero eine Literatin. Die Sprache ist ihr mindestens so nahe wie der Tanz oder die Musik. Bücher sind Manteros großer privater Schatz, den sie in hohe Regale schlichtet und liebevoll wieder und wieder durchstreift wie eine Katze ihr Terrain. Mantero muß um ihre Zeit für ausgedehnte Streifzüge durch ihre Bücherwelt kämpfen. Denn sie ist die wichtigste zeitgenössische Tanzschaffende Portugals und gewissermaßen die Femme de Lettres in der Tanzszene Europas.
Neben bunten und hintergründigen Gruppenstücken erarbeitet Mantero Soli,die, eines nach dem anderen, zu Klassikern des progressiven Tanzes der 90er Jahre geworden sind. Mit André Lepecki, dem heute renommiertesten portugiesischen Tanztheoretiker, erarbeitete sie 1991 Perhaps she can dance first and think afterwards. Der Titel ist ein Zitat aus Samuel Becketts berühmtem Theaterstück Warten auf Godot. Mantero tritt in grünem Kleidchen auf. Vier Wachsfüße schmelzen langsam über schwach leuchtenden Petroleumlampen. Dreimal schmilzt eine berückende Jazzmusik in den Tanz ein. Diese sehr sensible frühe Arbeit von Mantero unterscheidet sich sehr von einem weiteren Solo, das zwei Jahre später entstanden ist: Olímpia.
Wie die Frau auf dem Gemälde Olympia (1846) des Malers Édouard Manet tritt Mantero unbekleidet auf. Sie zieht ihr Bett, auf das sie sich gleich in Pose legen wird, an einer Leine hinter sich her und liest laut aus einemBuch. Kaum hat sie sich schön hindrapiert, scheint sie müde zu werden, in Trance zu fallen, ihr Kopf kippt vornüber und nach hinten, sie steht taumelig auf, und torkelt um das Bett herum. Was geschieht mit ihr? Und was geschah damals mit dem Modell der Olympia nach dem Skandal, den Manets Bild erzeugte?
Das dritte Stück, a mysterious Thing, said e.e. cummings, entstand 1996. In diesem Solo stecken Manteros Füße, auf Spitze gezwungen, in Ziegenhuf-Stiefeln. Ihr Körper ist braun gefärbt. Und in ihrem Gesicht schillert pompöse Schminke. Ein einziger Scheinwerfer strahlt sie an, der Rest der Bühne ist Nacht. So steht sie in der Rolle der legendären Tänzerin Josephine Baker vor ihrem Publikum. Manteros a mysterious Thing, said e.e. cummings ist unheimliches, auch unheimlich schönes Denkstück über eine starke Frau, deren Leben nicht nur aus Nackttänzen bestand, sondern auch aus einem starken sozialen Engagement.
Drei Arbeiten, drei literarische Anspielungen: Beckett, ein Zitat und Cummings. Wie kann Literatur das Leitmotiv von Tanz sein, wo die beiden doch scheinbar so wenig miteinander gemeinsam haben? Bei Mantero verbinden sich die durch das Lesen und das Tanzen entstehenden inneren Bilder. Für sie ist das Kunstschaffen ein Akt des Lesens, und zwar, wie sie sagt, “des Lesens der Welt". Die Kraft dieses literarischen Impulses ist in Manteros Werken stets präsent, und sie läßt die Tänzerin in unseren Köpfen tanzen, auch wenn sie einmal auf der Bühne als lebendes Bild still im Bett liegt.