Stoff für unendlich viele Geschichten

Die portugiesische Choreographin Vera Mantero zeigt zwei ihrer Stücke im Mousonturm

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 17 Oct 1997German

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In einem klinisch weißen Bühnenraum stehen drei Herren im dunkelblauen Anzug und zwei Damen im himmelblauen Kostüm. Jeder hält einen Blumenstrauß in der Hand, doch niemand nettes und adrettes taucht auf, dem sie die Blumen überreichen könnten. So sacken ihre Köpfe müde nach vorne, einer setzt sich den Strauß wie einen Hut auf den Kopf, eine Frau streichelt sich damit lustvoll am Kinn. Allmählich wandern die Sträuße zwischen ihre Beine, und mit ihnen sacken die Körper ab, bis sie sich alle fünf im Kreis bewegen und gegenseitig am Hinterteil beschnuppern. Vom aufrechten deodorierten Menschen zum kriechenden riechenden Vierbeiner - Vera Mantero löst die Schutzschicht der Zivilisation auf der Bühne auf wie eine Brausetablette in einem Glas Wasser.

Die portugiesische Choreographin, 1966 in Lissabon geboren, lässt traditionelle Unterscheidungen zwischen Tänzer, Schauspieler und Sänger nicht länger gelten. Sie ist auf der Suche nach einem Darsteller, der über alle Mittel gleichermaßen verfügt. Daß Mantero für sich selbst faszinierende minimalistische Soli entwerfen kann, hat sie mit Uma misteriosa Coisa, disse o e.e. cummings, (“Eine mysteriöse Sache, sagte e.e. cummings”) letzten Sonntag im Mousonturm bewiesen. In einen bronzefarbenen durchsichtigen Body stand sie nackt wie ein Satyr auf zwei Pferdefüßen und versuchte die Balance zu halten, während sie einzelne Worte rhythmisch wiederholte und mit dem französischen Wort "atroce", abscheulich, entsetzlich, punktierte. Mit A queda de um ego, der Fall eines Ichs, hat sie nun zum ersten Mal ein wirkliches Ensemblestück für drei Darsteller und drei Darstellerinnen geschaffen, in dem sich die Statik ihrer Bilder, die ihre früheren Stücke oft zu zähen Angelegenheiten machten, wirklich in Bewegung und Rhythmus auflöst. A queda de um ego ist ihr Meisterstück.

Vera Manteros Körper sind Zivilisationskörper, die langsam, unmerklich und auf fast unheimliche Weise fremd werden und auseinanderfallen. Die Darsteller stecken sich haufenweise Bonbons in den Mund, lassen sie genüßlich vorne auf der Zunge zergehen und spucken sie dann wieder aus. Geldstücke fallen aus ihren Taschen und verteilen sich klimpernd auf dem Boden, der mehr und mehr die Spuren einer totalen Auflösung trägt. Aus einer Stofftasche kriechen kleine Spielzeugsoldaten hervor, die wie Schildkröten über den Boden robben. Drei große Standventilatoren blasen einem Herren Zeitungspapier ins Gesicht, ein anderer beschmiert sich und seine Partnerin mit blauer Erde. Immer wieder rücken sie dabei ihre Jacketts zurecht und knüpfen sie ordentlich wieder zu. Der Ernst und die Selbstverständlichkeit, mit dem die Darsteller die Ordnung im Chaos behaupten, macht die unheimliche Faszination des Abends aus. Spielen sie allerdings mit herausgestreckter Zunge, grimassierendem Gesicht und heftigem Kopfwackeln verrückt, sackt die Vorstellung ins Harmlose ab. Doch das geschieht glücklicherweise nicht allzu oft in diesen 90 Minuten, in denen die Regression zur Form gerinnt.

Am Ende von Vera Manteros Ichauflösung steht weder eine unio mystica mit einem höheren Wesen noch eine metaphysische Erkenntnis des Eigentlichen, das sich nach gängigen Vorstellungen sprachlos in getanzten Gefühlen bahnbricht. Für Vera Mantero bleibt der Körper ein rundherum beschriebenes Blatt, das je nach Lektürerichtung ganz verschiedene unendliche Geschichten zu erzählen hat. Ähnlich wie die Arbeiten von Meg Stuart, sind auch Vera Manteros Stücke Arbeit an den Erinnerungen, die der Körper mit sich herumschleppt. Im strengen Sinne getanzt wird dabei nur wenig. Lediglich drei Duos gönnt uns die Choreographin, die allerdings mit ihren Verschachtelungen und prekären Balancen der Körper zu den spannensten und sinnlichsten gehören, die es in letzter Zeit zu sehen gab.