Apathie, Autismus, Autoerotik

Das Tanztheaterstück "Bonjour Madam" von der belgischen Gruppe Les Ballets C. de la B. im Mousonturm

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 20 Jan 1996German

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Sie kommen in schweren Bergstiefeln und zerrissenen Jeans, in zerschlissenen Anzügen, Trainingshosen und T-Shirts. Sie lagern auf der Bühne, in deren Mitte ein Wasserbecken steht, wie auf einem Marktplatz. Ihre Habseligkeiten haben sie in Plastiktüten verstaut. Mit dem Rücken zum Publikum formieren sie sich zu einem rituell anmutenden Aufwärmtanz, einer kurzen einfachen Sequenz, die sie dreiundsechzigmal wiederholen. Dabei drehen sie sich auf der Stelle um die eigene Achse, jeder für sich und doch alle gemeinsam.

"Jeder für sich und alle gemeinsam" könnte auch als Motto über dem Tanztheaterabend der belgischen Formation Les Ballets C. de la B. um den Choreographen Alain Platel stehen, der jetzt im Mousonturm zu sehen ist. „Bonjour Madame, comment allez-vous aujourd'hui“ ist inspiriert von den einfachen, trivialen Sätzen der Marguerite Duras, deren Banalität die Abgründe des Lebens ganz nebenbei und nonchalant einfangen. Die Frage, "Wie geht es Ihnen heute", hallt mehrmals unbeantwortet wie ein Ruf aus einer vergangenen, geselligen Zeit durch die Gruppe vereinzelter Nomaden, die als Produkte unserer durchtechnisierten wurzellosen Gesellschaft heute die Welt bevölkern.

Zehn Männer und Jugendliche zwischen Apathie und Autismus, Autoerotik und Selbstdestruktion zittern, winden und drehen sich über die Bühne, bespringen sich und benutzen sich gegenseitig als Klettergerüst. Ihr Tanz, immer wieder durchsetzt von scheiternden Versuchen, klassische Schrittfolgen zu integrieren, findet häufig am Boden statt, ganz unten, da, wo die Lage unschön und hoffnungslos, die Kommunikation unmöglich ist. Jeder für sich und alle gemeinsam finden sie doch einen Rhythmus, der ihre gleichzeitg und isoliert voneinander stattfinden Handlungen immer wieder auf einen Schlag zusammenführt.

Alain Platel gehört wie Meg Stuart zur neuen Generation von Choreographen, die ihren Weg jenseits der streng durchkomponierten kühlen Form suchen. Ihren Stücken, deren Bewegungsfolgen in langen Improvisationensprozessen aufgrund von persönlichen Erfahrungen erarbeitet werden, ist es vielmehr um die Wirkung der tänzerischen Mittel auf die Emotionen der Zuschauer zu tun als um die Analyse der am Tanz beteiligten Zeichensysteme.

Doch wo Meg Stuarts suggestive Szenen uns die Enteignung unserer Körper durch die Flut der Medienbilder plastisch vor Augen führen, erinnern Platels groteske Deformationen eher an eine Turnstunde für pubertierende Jungs, die die Zeit totschlagen. Die Versammlung entwurzelter, unbehauster Stadtindianer ist als Bild zu vordergründig konkret, um in die Tiefe zu gehen und zu unspezifisch in der szenischen Entwicklung, um uns wirklich etwas zu erzählen: über ein Milieu, über das Gruppenverhalten von Männern und ihren Phantasien, über unsere eigenen Ängste. Im Widerspruch von symbolischer Beredsamkeit und halbherziger Abstraktion will sich ein Unbehagen in unserem Körper nicht einstellen.

Stattdessen nähert sich Platel mit pathetischen Musikeinlagen immer wieder der Grenze zum Sozialkitsch. „Bonjour Madame“ ist vollkommen unsinnlich, ohne jede aggressive oder erotische Spannung zwischen den Tänzern, ein Mosaik aus monochromen Steinchen, die man willkürlich zusammensetzen kann und deren Eintönigkeit Einsamkeit immer nur vortäuscht anstatt ihr hintergründig Gestalt zu geben.