Sehnsucht nach Glückund Verschmelzung

Pina Bausch gastiert mit "Nelken" in der Frankfurter Oper

Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rhein-Main 24 May 1997German

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Richard Tauber wußte es. "Schön ist die Welt, wenn das Glück dir ein Märchen erzählt", ertönt die Stimme des Tenors vom Band. Doch schon bald tritt ein Paar auf, das sich aus zwei gelben Kindereimerchen Erde auf die Häupter schaufelt als wollten sie sich beerdigen. Das Glück scheint an diesem Abend immer wieder greifbar nah, doch am Ende hat man wieder nur den falschen Zipfel von der Wurst erwischt. Ein Märchen aus der Kinderzeit, was wäre es sonst, das Glück? Die Zukunft jedenfalls, die Madame Lola dem Ensemble am Ende verspricht, sie ist nur ein Bad aus Tränen, das sich die Tänzer der Reihe nach mit feingehäckselten Zwiebeln ins Gesicht reiben. "Nelken", das fünfzehn Jahre alte Stück von Pina Bausch und ihrem Wuppertaler Tanztheater, ist ein Wechselbad aus Terror und Spiel, Autorität und Anarchie, Bedrohung und Glück.

Peter Pabst hat das mittlerweile berühmte Nelkenfeld aus rosa Seidennelken für das zweite Frankfurter Gastspiel des Ensembles auf die Bühne des Opernhauses gezaubert, an dem sich das Ensemble fast zwei Stunden lang abarbeitet, bis es die Spuren ihrer Geschichten wie eine Inschrift in sich trägt. Vier Stuntman prügeln sich über die Köpfe der Tänzer hinweg, springen von zwei Metalltürmen wagemutig in eine Ansammlung von Kartons. Einer Tänzerin rücken sie mit einem Tisch so dicht auf den Leib, das die Arme trotz aller Bestechungsversuche mit Duty-Free Zigaretten nurmehr schreien kann. Vier Schäferhunde bewachen die Bühne als wäre sie eine Grenzstation in ein fremdes Land, in dem der altbewährte Jan Minarik im schwarzen Anzug umherläuft, um von seinen Kollegen die Pässe zu verlangen.

Er zwingt Dominique Mercy zu Tierimitationen, die dieser stoisch ausführt. Ob Ziege, Hund, Frosch oder Papagei - Mercy, der melancholische Clown, kann alles, sogar die Jetés und Entrechƒts des klassischen Balletts, die er wütend ins Publikum schleudert. An diesen Stellen wird es besonders deutlich: Das Stück war 1982 auch als Reaktion auf die Kritik an Pina Bausch gedacht, die ihre Tänzer nie im akademischen Sinne "schön" tanzen ließ. In seinem Trotz gegen die Tanzautorität, indem sich die gesellschaftliche Autorität spiegelt, wirkt es heute dann doch ein wenig veraltet. Lutz Förster als bellender Ballettzuchtmeister peitscht die Truppe ständig ein, bis er am Ende seinen Aufritt vom Anfang wiederholt, sich ruhig und aufrecht hinstellt und in Taubstummensprache den Text von "Someday he'll come along, the man I love" ausbuchstabiert. In Pina Bauschs Theaterzeichen liegt die Wahrheit in der Übersetzung, die darum weiß, das die Sehnsucht nach Verschmelzung in der Liebe nie gestillt werden kann.

Alte Schlager, Jazzmusiken, die brüchige Sehnsuchtsstimme von Billie Holiday, südamerikanische Märsche und Schuberts "Der Tod und das Mädchen" - Pina Bausch schneidet die Musik nicht, läßt sie in Gänze erklingen und spielt damit das Potential an Wünschen, die mit ihr verbunden ist, voll aus. Mit offenen Armen rennen die zweiundzwanzig Tänzer und Tänzerinnen aufs Publikum zu und rücken ihm mit ihren wunderbaren Formationstänzen geradezu auf den Leib, als läge das Glück in der Vereinigung mit den Zuschauern. Am Ende ist das Nelkenfeld, das künstliche Paradies, indem die Ängste der Kindheit wieder Gestalt annehmen, zertrampelt. Die Tänzer klettern von der Bühne herunter und umarmen das Publikum. Das Glück, es scheint wieder möglich. Zumindest im Theater. Stürmischer Applaus für ein wunderbares Ensemble und eine einzigartige Choreographin.