Schuhe, Handschuhe und Handschellen
Der New Yorker Choreograph John Jasperse zeigt sein Stück "Excessories" im Mousonturm
Ungefahr in der Mitte des Abends betritt eine Frau mit einem Koffer die Bühne. Sie öffnet ihn, nimmt einen weiteren Koffer heraus, aus dem sie mit großem Ernst eine Handtasche hervorholt. Diese wiederum beherbergt ein rotes Tuch, aus dem die Tänzerin schließlich eine Schere wickelt. Und die ist nun wieder fast so etwas wie der Schlüssel zum Stück des jungen New Yorker Choreographen John Jasperse, in dem eine Bewegungssequenz aus der anderen folgt, ohne daß sie sich zu einer Geschichte formen, geschweige denn eine Bedeutung preisgeben würde. Mit der Schere schneidet die Tänzerin das Hemd eines am Boden liegenden Tänzers entzwei und durchtrennt damit gleichzezitg das Zeichen von seinem Träger.
Jasperse, der bei Anne Teresa de Keersmaeker getanzt und seit 1985 immer wieder kleinere Stücke choreographiert hat, wurde mit der Kurzfassung von "Excessories" im letzten Jahr beim Wettbewerb in Bagnolet mit dem Preis für das "subversivste Stück" ausgezeichnet und kann zu Recht als eine Entdeckung in einer stark ausgedünnten Landschaft junger Choreographen gelten, in der es von emotionalen Vagheiten und bedeutungschwangeren Uninspiriertheiten nur so wimmelt. Ohne Anbiederung ans Publikum mit erfrischender Eigenständigkeit, Konsequenz und höflicher Zurückhaltung löst er altvertraute Bande auf und verknüpft sie neu.
Der Titel seines vierten abendfüllenden Stücks, das jetzt auch im Mousonturm zu bewundern war, läßt an Exzeß, aber auch an körperliche Extremitäten oder Accesoires wie Schuhe, Handschuhe oder Handschellen aus Leder denken, die alle auf der Bühne Verwendung finden. Dabei ist es Jasperse nicht, wie im Vorfeld vielfach zu lesen war, um vordergründige Schockeffekte oder gar pornographische Zerrbilder zu tun. Mit völlig ausdruckslosem Gesicht und ohne Emotionen bewegen sich die fünf Tänzer und Tänzerinnen über die Bühne, greifen Tanzstile und Bewegungsmuster aus der Luft, als müßten sie nur in vorgefertigte Raster einsteigen, um sie kurz darauf schon wieder zu verlassen.
Dabei geraten die Bausteine kulturell vorgefertigter Ordnungen immer wieder ins Wanken, werden Ballettschritte mit Release-Techniken kombiniert, Kostüme ausgetauscht, wackelt Jasperse selbst in Stöchelschuhen über die Bühne, während sich ein anderer Tänzer die Brustwarzen mit rotem Lippenstift bemalt. Jeder Körperteil dient ihm als Material. Selbst sie entblößten Geschlechtsteile der Männer und die nackten Brüste der Frauen werden für einem witzigen Gruppentanz genutzt. Jeder Schritt wirkt entweder bloß markiert oder mit Aplomb abrupt gesetzt als raste ein Zahnrad ein. Der Körper funktioniert im Kontext der Bewegung. Doch an sich bleibt er eine Leerstelle. Aus der feuerwerksknallenden, türenschlagenden, schlüsselrasselnden, autohupenden und taubengurrenden Soundcollage des Komponisten James Lo ergeben sich häufig Assoziationen zu ganz alltäglichen Situationen in einer Großstadt, in der Menschen sich begegnen und im Gedränge aneinander reiben: Vorstellungen die auch Jasperse Choreogrpahie weckt, ohne sie abzubilden. Inmitten vereinzelter funktionaler Gesten entsteht auf diese Art eine rastlose Verkettungsmaschine von Gliedmaßen, die die Haltung des Körpers mit rein mechanischen Hebelgesetzen aus der Balance kippt. Der Fokus der Aufmerksamkeit saugt sich dabei stets auf den einzelnen Gelenken und Kontaktpunkten fest, die, wie in dem wunderschönen, einfachen Bild zu Beginn, angestrahlt in die Augen springen während sie Linien und Kreise in die Luft malen. Jasperse betont mit Nachdruck die kreative Seite menschlicher Bewegung, ihr Reservoir an Entfaltungsmöglichkeiten, das für ihn schier unendlich zu sein scheint. Gegen Ende verläßt ihn dann die formale Kraft doch etwas. Zu einförmig verkettet sich "Excessories" dahin, ohne die starken Hell-Dunkel-, Laut-Leise-Kontraste, die dem Stück über weite Strecken seine Struktur geben, stringent weiterzuführen. Doch das ist bei einem noch jungen Choreographen entschuldbar. Von John Jasperse wird man noch hören.